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DER REVISIONISMUS IST PRODUKT DER "PAZIFISTISCHEN" EPOCHE IN DER ENTWICKLUNG DER ARBEITERBEWEGUNG
Die grundlegenden taktischen Differenzen in der modernen Arbeiterbewegung Europas und Amerikas laufen auf den Kampf gegen zwei größere Richtungen hinaus, die vom Marxismus, der faktisch zur herrschenden Theorie in dieser Bewegung geworden ist, abweichen. Diese zwei Richtungen sind der Revisionismus (Opportunismus, Reformismus) und der Anarchismus (Anarchosyndikalismus, Anarchosozialismus). Diese beiden Abweichungen von der in der Arbeiterbewegung herrschenden marxistischen Theorie und marxistischen Taktik sind während der mehr als fünfzigjährigen Geschichte der proletarischen Massenbewegung in verschiedenen Formen und verschiedenen Schattierungen in allen zivilisierten Ländern zu beobachten.
Schon diese Tatsache allein erhellt, daß sich diese Abweichungen weder aus Zufälligkeiten noch aus Irrtümern einzelner Personen oder Gruppen, noch selbst aus dem Einfluß nationaler Besonderheiten oder Traditionen usw. erklären lassen. Es muß tieferliegende Ursachen geben, die in der Wirtschaftsordnung und im Charakter der Entwicklung aller kapitalistischen Ländern wurzeln und diese Abweichungen ständig erzeugen.
Aus: "Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung" (Veröffentlicht in der Zeitschrift 'Swesda', Nr. 1, 16. Dezember 1910)
Die jüngsten Ereignisse haben ja gerade gezeigt, daß einerseits die objektiven Bedingungen für den imperialistischen (d.h. dem höchsten, letzten Stadium des Kapitalismus entsprechenden) Krieg herangereift waren und daß andererseits die Jahrzehnte der sogenannten friedlichen Epoche in allen Ländern Europas eine Unmasse von kleinbürgerlichem, opportunistischem Mist innerhalb der sozialistischen Parteien angehäuft hatten. Schon seit etwa fünfzehn Jahren, seit der berühmten "Bernstein-iade" in Deutschland - in vielen Ländern auch schon früher - steht das Problem dieses opportunistischen, fremden Elements in den proletarischen Parteien auf der Tagesordnung, und es dürfte sich kaum ein namenhafter Marxist finden, der nicht zu wiederholten Malen und bei verschiedenen Anlässen anerkannt hätte, daß die Opportunisten tatsächlich ein der sozialistischen Revolution feindliches, ein nichtproletarisches Element darstellen. Das besonders rasche Anwachsen dieses sozialen Elements in den letzten Jahren unterliegt keinem Zweifel: Es sind dies Beamte der legalen Arbeiterverbände, Parlamentarier und sonstige Intellektuelle, die in der legalen Massenbewegung ein bequemes und ruhiges Plätzchen gefunden haben, gewisse Schichten von bestbezahlten Arbeitern, kleinen Angestellten usw. usf.. Der Krieg hat anschaulich gezeigt, daß zur Zeit einer Krise (und die Epoche des Imperialismus ist unvermeidlich eine Epoche von Krisen jeder Art) eine stattliche Anzahl von Opportunisten, die von der Bourgeoisie unterstützt und zum Teil direkt von ihr gelenkt werden (das ist besonders wichtig!), auf die Seite der Bourgeoisie überläuft, den Sozialismus verrät, der Arbeitersache schadet und sie zugrunde richtet. In jeder Krise wird die Bourgeoisie stets den Opportunisten Beistand leisten und den revolutionären Teil des Proletariats - vor nichts haltmachend, durch die gesetzwidrigsten, grausamsten militärischen Maßnahmen - unterdrücken. Die Opportunisten sind bürgerliche Feinde der proletarischen Revolution, die sich in Friedenszeiten in den Arbeiterparteien einnisten und ihre bürgerliche Arbeit im geheimen verrichten, sich in Krisenepochen aber sofort als offene Verbündete der gesamten vereinigten Bourgeoisie erweisen - von der konservativen bis zur radikalsten und demokratischsten, von der freigeistigen bis zur religiösen und klerikalen. Wer diese Wahrheit nach den Ereignissen, die wir erleben, noch nicht begriffen hat, der betrügt hoffnungslos sich selbst und die Arbeiter. Fälle persönlichen Überlaufens sind dabei unausbleiblich, aber man darf nicht vergessen, daß sie erst durch das Vorhandensein einer Schicht und einer Strömung kleinbürgerlicher Opportunisten Bedeutung gewinnen. Die Sozialchauvinisten Hyndmann, Vandervelde, Guesde, Plechanov und Kautsky hätten keinerlei Bedeutung, wenn ihre charakterlosen und abgeschmackten Reden zur Verteidigung des bürgerlichen Patriotismus nicht von ganzen opportunistischen Gesellschaftsschichten und von ganzen Haufen bürgerlicher Zeitungen und bürgerlicher Politiker aufgegriffen würden.
Aus: "Was Weiter?", (Veröffentlicht in 'Sozial-Demokrat' Nr. 36, 9. Januar 1915)
Der Zusammenbruch der II. Internationale des sozialistischen Opportunismus. Letzterer erwuchs als Produkt der vorhergegangenen "friedlichen" Entwicklungsepoche der Arbeiterbewegung. Diese Epoche lehrte die Arbeiterklasse den Gebrauch so wichtiger Kampfmittel wie die Ausnutzung des Parlamentarismus und aller legalen Möglichkeiten, die Gründung ökonomischer und politischer Massenorganisationen, die Schaffung einer weitverbreiteten Arbeiterpresse usw. Andererseits erzeugte diese Epoche eine Tendenz zur Leugnung des Klassenkampfes und zur Predigt des sozialen Friedens, zur Verneinung der sozialistischen Revolution, zur prinzipiellen Ablehnung illegaler Organisationen, zur Bejahung des bürgerlichen Patriotismus usw. Bestimmte Schichten der Arbeiterklasse (die Bürokratie in der Arbeiterbewegung und die Arbeiteraristokratie, für die ein kleiner Teil der Profite aus der Ausbeutung der Kolonien und aus der privilegierten Lage ihres "Vaterlandes" auf dem Weltmarkt abfiel) sowie die kleinbürgerlichen Mitläufer innerhalb der sozialistischen Parteien waren die soziale Hauptstütze dieser Tendenzen und die Träger des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat.
Der verderbliche Einfluß des Opportunismus trat besonders kraß in der Politik der Mehrheit der offiziellen sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale während des Krieges zutage. Bewilligung der Kriegskredite, Eintritt in die Kabinette, Politik des "Burgfriedens", Verzicht auf illegale Organisationen zu einer Zeit, wo die Legalität aufgehoben ist - das alles bedeutet Durchkreuzung der wichtigsten Beschlüsse der Internationale und direkten Verrat am Sozialismus.
Aus: "Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale", in: "Die Konferenz der Auslandssektion der SDAPR", (vor dem 19. Febr. 1915)
DIE SOZIALE BASTION DES REVISIONISMUS IST DIE ARBEITERARISTOKRATIE
Hier müssen wir die Frage stellen, wodurch sich die Zähigkeit dieser Richtungen in Europa erklärt und warum dieser Opportunismus in Westeuropa stärker ist als bei uns. Nun, weil die fortgeschrittenen Länder die Möglichkeit hatten und haben, ihre Kultur auf Kosten einer Milliarde unterdrückter Menschen zu schaffen. Weil die Kapitalisten dieser Länder viel mehr an Profit einstecken, als durch die Auspowerung der Arbeiter ihres eigenen Landes erzielen können.
Vor dem Kriege schätzte man, daß die drei reichsten Länder - England, Frankreich und Deutschland - allein auf ihrem Kapitalexport, abgesehen von anderen Einkünften, 8 - 10 Milliarden Francs Einnahmen im Jahr haben.
Es ist klar, daß man von dieser hübschen Summe unschwer eine halbe Milliarde für milde Gaben an die Arbeiterführer, die Arbeiteraristokratie, für Bestechungen aller Art abzweigen kann. Das Ganze läuft ja tatsächlich auf Bestechung hinaus. Es geschieht auf tausenderlei verschiedenen Wegen: durch Hebung der Kultur in den größten Zentren, durch Gründung von Bildungsanstalten, durch Schaffung von Tausenden warmer Pöstchen für die Führer der Genossenschaften, der Gewerkschaften und der Parlamentsfraktion. Aber es geschieht überall, wo moderne zivilisierte kapitalistische Verhältnisse bestehen. Und diese Milliarden an Extraprofit bilden die ökonomische Grundlage des Opportunismus in der Arbeiterbewegung.
Aus: "II. Kongreß der Kommunistischen Internationale: Referat über die internationale Lage und die Hauptaufgaben der Kommunistischen Internationale" (19. Juli 1920)
Eine der Hauptursachen, welche die revolutionäre Arbeiterbewegung in den entwickelten kapitalistischen Ländern erschweren, besteht darin, daß es dem Kapital hier dank dem Kolonialbesitz und den Extraprofiten des Finanzkapitals usw. gelungen ist, eine relativ breite und feste Schicht der Arbeiteraristokratie herauszubilden, die eine kleine Minderheit ist. Sie erfreut sich besserer Lohnbedingungen und ist am meisten vom Geist zünftlerischer Beschränktheit, von kleinbürgerlichen und imperialistischen Vorurteilen durchdrungen. Das ist die wahre soziale "Stütze" der II. Internationale, der Reformisten und "Zentristen", und im gegenwärtigen Augenblick dürfte das wohl die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie sein.
Aus: "Thesen über die Hauptaufgaben des Zweiten Kongresses der Kommunistischen Internationale" (4. Juli 1920)
In Wirklichkeit aber schafft die formale Zugehörigkeit der Opportunisten zu den Arbeiterparteien keineswegs die Tatsache aus der Welt, daß sie, objektiv, eine politische Abteilung der Bourgeoisie, Schrittmacher ihres Einflusses, ihre Agenten in der Arbeiterbewegung sind.
Aus: "Der Zusammenbruch der II. Internationale", (geschrieben in der zweiten Hälfte Mai und der ersten Hälfte Juni 1915)
DIE ZICKZACKWEGE DER BÜRGERLICHEN TAKTIK HABEN EINE STÄRKUNG DES REVISIONISMUS IN DER ARBEITERBEWEGUNG ZUR FOLGE
Eine außerordentlich wichtige Ursache, die unter den Teilnehmern der Arbeiterbewegung Differenzen erzeugt, sind schließlich die Veränderungen in der Taktik der herrschenden Klassen im allgemeinen und der Bourgeoisie im besonderen. Wäre die Taktik der Bourgeoisie immer die gleiche oder zumindest immer gleichartig, so würde die Arbeiterklasse rasch lernen, sie mit einer ebenso gleichbleibenden oder gleichartigen Taktik zu beantworten. In Wirklichkeit bildet die Bourgeoisie in allen Ländern unvermeidlich zwei Systeme des Regierens heraus, zwei Methoden des Kampfes für ihre Interessen und für die Verteidigung ihrer Herrschaft, wobei diese zwei Methoden bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen Kombinationen verflechten. Die erste Methode ist die Methode der Gewalt, die Methode der Verweigerung jeglicher Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung, die Methode der Aufrechterhaltung aller alten und überlebten Institutionen, der Methode der unnachgiebigen Ablehnung von Reformen. Darin besteht das Wesen der konservativen Politik, die in Westeuropa immer mehr aufhört, die Politik der Grundbesitzerklassen zu sein, die immer mehr zu einer der Spielarten der allgemeinen bürgerlichen Politik wird. Die zweite Methode ist die Methode des "Liberalismus", der Schritte in der Richtung auf die Entfaltung politischer Rechte, in der Richtung auf Reformen, Zugeständnisse usw. Nicht aus böser Absicht einzelner Personen und nicht zufällig geht die Bourgeoisie von der einen Methode zur anderen über, sondern infolge der radikalen Widersprüche ihrer eigenen Lage. Die normale kapitalistische Gesellschaft kann sich nicht erfolgreich entwickeln ohne ein gefestigtes Repräsentativsystem, ohne gewisse politische Rechte der Bevölkerung, die selbstverständlich verhältnismäßig hohe Ansprüche in "kultureller" Hinsicht stellt. Diese Ansprüche auf ein bestimmtes Minimum an Kultur werden erzeugt durch die Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise selbst mit ihrer hohen Technik, ihrer Kompliziertheit, Elastizität, Beweglichkeit, mit der raschen Entwicklung der Weltkonkurrenz usw. Schwankungen in der Taktik der Bourgeoisie, Übergänge vom System der Gewaltanwendung zum System von Scheinzugeständnissen sind infolgedessen charakteristisch für die Geschichte aller europäischen Länder im letzten halben Jahrhundert, wobei die verschiedenen Länder in bestimmten Perioden vorwiegend die eine oder die andere Methode entwickeln. So war zum Beispiel in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts England das klassische Land der "liberalen" bürgerlichen Politik, das Deutschland der siebziger und achtziger Jahre hielt sich an die Methode der Gewalt usf. Als diese Methode in Deutschland herrschte, war der einseitige Widerhall auf dieses bürgerliche Regierungssystem das Anwachsen des Anarchosydikalismus oder, wie er damals genannt wurde, des Anarchismus in der Arbeiterbewegung (die "Jungen" zu Beginn der neunziger, Johann Most zu Beginn der achtziger Jahre). Als 1890 eine Wendung zu "Zugeständnissen" eintrat, erwies sich - wie immer - diese Wendung als noch gefährlicher für die Arbeiterbewegung, da sie den ebenso einseitigen Widerhall auf das bürgerliche "Reformertum" hervorrief: den Opportunismus in der Arbeiterbewegung. "Das positive, reale Ziel der liberalen Politik der Bourgeoisie", sagt Pannekoek, "ist die Irreführung der Arbeiter, ist das Hineintragen von Spaltung in ihre Mitte, ist das Verwandeln ihrer Politik in ein ohnmächtiges Anhängsel des ohnmächtigen, stets ohnmächtigen und ephemeren Scheinreformertums. Nicht selten erreicht die Bourgeoisie für eine gewisse Zeit ihr Ziel mit Hilfe der "liberalen" Politik, die - wie Pannekoek richtig bemerkt - eine "schlauere" Politik darstellt. Ein Teil der Arbeiter, ein Teil ihrer Vertreter läßt sich mitunter durch Scheinzugeständnisse täuschen. Die Revisionisten erklären die Lehre vom Klassenkampf für "veraltet" oder schlagen eine Politik ein, die in der Praxis die Abkehr vom Klassenkampf bedeutet. Die Zickzackwege der bürgerlichen Taktik haben eine Stärkung des Revisionismus in der Arbeiterbewegung zur Folge und steigern nicht selten die Differenzen innerhalb der Arbeiterbewegung bis zur direkten Spaltung. Aus: "Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung", (veröffentlicht in 'Swesda' Nr. 1, 16. Dezember 1910) Der gewaltige Fortschritt des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten und das rasche Wachstum der Arbeiterbewegung in allen zivilisierten Ländern haben zu einer Veränderung des früheren Verhältnisses der Bourgeoisie zum Proletariat geführt. Anstatt offen, prinzipiell und direkt alle Grundsätze des Sozialismus im Namen der absoluten Unantastbarkeit des Privateigentums und der freien Konkurrenz zu bekämpfen, geht die europäische und amerikanische Bourgeoisie, vertreten durch ihre Ideologen und Politiker, immer häufiger dazu über, die sogenannten sozialen Reformen gegen die Idee der sozialen Revolution zu verfechten. Nicht Liberalismus gegen Sozialismus, sondern Reformismus gegen sozialistische Revolution - das ist die Formel der modernen "fortgeschrittenen", gebildeten Bourgeoisie. Und je höher die Entwicklung des Kapitalismus in einem bestimmten Land, je reiner die Herrschaft der Bourgeoisie, je größer die politische Freiheit, desto weiter ist das Anwendungsfeld der "neusten" bürgerlichen Losung: Reformen gegen Revolution, stückweises Flicken des untergehenden Regimes zur Spaltung und Schwächung der Arbeiterklasse, zur Behauptung der Macht der Bourgeoisie gegen den revolutionären Sturz dieser Macht. Vom Standpunkt der internationalen Entwicklung des Sozialismus muß die erwähnte Veränderung unbedingt als ein gewaltiger Schritt vorwärts betrachtet werden. Zunächst kämpfte der Sozialismus für seine Existenz, und gegen ihn stand die auf ihre Stärke vertrauende Bourgeoisie, die kühn und konsequent den Liberalismus als ein in sich geschlossenes System ökonomischer und politischer Anschauungen verteidigte. Der Sozialismus ist groß geworden, er hat schon in der ganzen zivilisierten Welt seine Daseinsberechtigung erfochten, er kämpft heute um die Macht, und die in Zersetzung begriffene Bourgeoisie, die die Unvermeidlichkeit ihres Untergangs erkennt, strengt alle Kräfte an, um diesen Untergang um den Preis halber und heuchlerischer Zugeständnisse hinauszuzögern, um auch unter den neuen Bedingungen ihre Macht zu behaupten. Die Zuspitzung des Kampfes zwischen Reformismus und revolutionärer Sozialdemokratie innerhalb der Arbeiterbewegung ist das ganz unvermeidliche Resultat der dargelegten Veränderungen in der gesamten ökonomischen und politischen Situation aller zivilisierten Länder der Welt.
Aus: "Der Reformismus in der russischen Sozialdemokratie", (veröffentlicht in 'Sozial-Demokrat' Nr. 24, 18. Oktober 1911)
DER REVISIONISMUS IST DAS DIREKTE PRODUKT DER BÜRGERLICHEN WELTKONZEPTION UND IHRES EINFLUSSES
Worin besteht seine Unvermeidlichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft? Warum ist er tiefer als die Unterschiede infolge der nationalen Besonderheiten und des verschiedenen Entwicklungsgrades des Kapitalismus? Weil in jedem kapitalistischen Land neben dem Proletariat immer auch breite Schichten des Kleinbürgertums, der Kleinbesitzer stehen. Der Kapitalismus ist entstanden und entsteht immer wieder aus dem Kleinbetrieb. Eine ganze Reihe von "Mittelschichten" werden vom Kapitalismus unausbleiblich neu geschaffen (Anhängsel der Fabrik, Heimarbeit, kleine Werkstätten, die infolge der Anforderungen der Großindustrie, zum Beispiel der Fahrrad- und Automobilindustrie, über das ganze Land verstreut sind, usw.). Diese neuen Kleinproduzenten werden ebenso unausbleiblich wieder in die Reihen des Proletariats geschleudert. Es ist ganz natürlich, daß die kleinbürgerliche Weltanschauung in den Reihen der großen Arbeiterparteien immer und immer wieder zum Durchbruch kommt.
Aus: "Marxismus und Revisionismus" (geschrieben vor dem 3. April 1908)
Somit wurde die Forderung nach einer entschiedenen Schwenkung von der revolutionären Sozialdemokratie zum bürgerlichen Sozialreformismus von einer nicht minder entschiedenen Schwenkung zur bürgerlichen Kritik an allen Grundideen des Marxismus begleitet. Da aber diese Kritik am Marxismus schon seit langem sowohl von der politischen Tribüne wie vom Katheder der Universität, sowohl in einer Unmenge von Broschüren wie, in einer Reihe gelehrter Abhandlungen betrieben wurde, da die ganze heranwachsende Jugend der gebildeten Klassen jahrzehntelang systematisch im Geiste dieser Kritik erzogen wurde, ist es nicht verwunderlich, daß die "neue kritische" Richtung in der Sozialdemokratie mit einem Schlag als etwas völlig Fertiges hervortrat, so wie Minerva dem Haupte Jupiters entstieg. Ihrem Inhalt nach brauchte sich diese Richtung nicht zu entwickeln und herauszubilden: sie wurde direkt aus der bürgerlichen Literatur in die sozialistische übertragen.
Aus: "Was tun?" (Herbst 1901 - Februar 1902)
Eine ständige Quelle der Differenzen bildet ferner der dialektische Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in Widersprüchen und durch Widersprüche vollzieht. Der Kapitalismus ist fortschrittlich, denn er vernichtet die alten Produktionsweisen und entwickelt die Produktivkräfte, zugleich aber hemmt er auf einer bestimmten Entwicklungsstufe das Wachstum der Produktivkräfte. Er entwickelt, organisiert und diszipliniert die Arbeiter - und er unterdrückt, unterjocht, führt zu Degeneration, Elend usw. Der Kapitalismus erzeugt selbst seinen Totengräber, schafft selbst die Elemente der neuen Ordnung, aber diese einzelnen Elemente ändern ohnen einen "Sprung" nichts an der allgemeinen Sachlage, rühren nicht an die Herrschaft des Kapitals.
Der Marxismus als Theorie des dialektischen Materialismus vermag diese Widersprüche des lebendigen Lebens, der lebendigen Geschichte des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung zu erfassen. Aber es versteht sich von selbst, daß die Massen aus dem Leben und nicht aus Büchern lernen, und darum pflegen einzelne Personen oder Gruppen bald diesen, bald jenen Zug der kapitalistischen Entwicklung, bald die eine, bald die andere "Lehre" dieser Entwicklung aufzubauschen und sie zu einer einseitigen Theorie, zu einem einseitigen System der Taktik zu erheben.
Bürgerliche Ideologen, Liberale und Demokraten, die den Marxismus und die moderne Arbeiterbewegung nicht verstehen, fallen ständig hilflos von einem Extrem ins andere. Bald suchen sie alles daraus zu erklären, daß böse Menschen eine Klasse gegen die andere "aufhetzen", bald trösten sie sich damit, daß die Arbeiterpartei eine "friedliche Reformpartei" sei.
Als direktes Produkt dieser bürgerlichen Weltanschauung und ihres Einflusses sind sowohl der Anarchosyndikalismus als auch der Reformismus zu betrachten; sie klammern sich an eine Seite der Arbeiterbewegung, erheben die Einseitigkeit zur Theorie und erklären Tendenzen oder Züge dieser Bewegung, die eine spezifische Besonderheit dieser oder jener Periode, dieser oder jener Bedingungen des Wirkens der Arbeiterklasse darstellen, für einander ausschließend. Das wirkliche Leben aber, die wirkliche Geschichte schließt diese verschiedenen Tendenzen in sich ein, ähnlich wie das Leben und die Entwicklung in der Natur sowohl langsame Evolution als auch jähe Sprünge, Abbrechen der Allmählichkeit in sich einschließen.
Die Revisionisten halten alle Betrachtungen über "Sprünge" und über den prinzipiellen Gegensatz der Arbeiterbewegung zur ganzen alten Gesellschaft für Phrasen. Sie halten Reformen für eine teilweise Verwirklichung des Sozialismus. Der Anarchosyndikalist lehnt die "Kleinarbeit", insbesondere Ausnutzung der Parlamentstribüne, ab. In Wirklichkeit läuft diese Taktik darauf hinaus, die "großen Tage" abzuwarten, ohne zu verstehen, die Kräfte zu sammeln, die die großen Ereignisse hervorbringen.
Die einen wie die anderen hemmen die wichtigste, die dringenste Arbeit: den Zusammenschluß der Arbeiter zu großen, starken, gut funktionierenden Organisationen, die imstande sind, unter allen Bedingungen gut zu funktionieren, die vom Geist des Klassenkampfes durchdrungen sind, klar ihre Ziele erkennen und in wahrhaft marxistischer Weltanschauung erzogen werden.
Aus: "Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung"(Veröffentlicht in "Swesda", 16. Dezember 1910)