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Die nachfolgende Arbeit ist keineswegs die Frucht irgendwelches »innern Dranges«. Im Gegenteil.
Als vor drei Jahren Herr Dühring plötzlich als Adept und gleichzeitig Reformator des Sozialismus sein Jahrhundert in die Schranken forderte, drangen Freunde in Deutschland wiederholt auf mich ein mit dem Wunsch, ich möchte diese neue sozialistische Theorie im Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei, damals dem »Volksstaat«, kritisch beleuchten. Sie hielten dies für durchaus nötig, wenn nicht in der noch so jungen und eben erst definitiv geeinten Partei von neuem Gelegenheit zu sektiererischer Spaltung und Verwirrung gegeben werden sollte. Sie waren besser imstande als ich, die Verhältnisse in Deutschland zu beurteilen; ich war also verpflichtet, ihnen zu glauben. Daneben zeigte sich, daß der Neubekehrte von einem Teil der sozialistischen Presse mit einer Wärme bewillkommt wurde, die zwar nur dem guten Willen des Herrn Dühring galt, gleichzeitig aber auch bei diesem Teil der Parteipresse den guten Willen durchblicken ließ, auf Rechnung eben dieses Dühringschen guten Willens auch die Dühringsche Doktrin unbesehn mit in den Kauf zu nehmen. Auch fanden sich Leute, die sich schon anschickten, diese Doktrin in popularisierter Form unter den Arbeitern zu verbreiten. Und endlich boten Herr Dühring und sein kleiner Sektenstamm alle Künste der Reklame und der Intrige auf, um den »Volksstaat« zu entschiedner Stellungnahme zu nötigen gegenüber der mit so gewaltigen Ansprüchen auftretenden neuen Lehre.
Trotzdem dauerte es ein Jahr, bis ich mich entschließen konnte, mit Vernachlässigung andrer Arbeiten in diesen sauren Apfel zu beißen. Es war eben ein Apfel, den man ganz verzehren mußte, sobald man einmal anbiß. |6| Und er war nicht nur sehr sauer, sondern auch sehr dick. Die neue sozialistische Theorie trat auf als letzte praktische Frucht eines neuen philosophischen Systems. Es galt also, sie im Zusammenhang dieses Systems, und damit das System selbst zu untersuchen; es galt, Herrn Dühring zu folgen auf jenes weitläufige Gebiet, wo er von allen möglichen Dingen handelt und noch von einigen mehr. So entstand eine Reihe von Artikeln, die seit Anfang 1877 im Nachfolger des »Volksstaat«, im Leipziger »Vorwärts« erschien und hier im Zusammenhang vorliegt.
Es war somit die Beschaffenheit des Gegenstandes selbst, die die Kritik zu einer Ausführlichkeit zwang, zu der der wissenschaftliche Gehalt dieses Gegenstandes, also der Dühringschen Schriften, im äußersten Mißverhältnis steht. Jedoch mögen auch noch zwei andre Umstände diese Ausführlichkeit entschuldigen. Einerseits gab sie mir die Gelegenheit, auf den sehr verschiednen hier zu berührenden Gebieten meine Auffassung von Fragepunkten positiv zu entwickeln, die heute von allgemeinerem wissenschaftlichem oder praktischem Interesse sind. Es ist dies in jedem einzelnen Kapitel geschehn, und sowenig diese Schrift den Zweck haben kann, dem »System« des Herrn Dühring ein andres System entgegenzusetzen, so wird der Leser doch hoffentlich in den von mir aufgestellten Ansichten den innern Zusammenhang nicht vermissen. Daß meine Arbeit in dieser Beziehung keine ganz fruchtlose gewesen ist, dafür habe ich schon jetzt Beweise genug.
Andrerseits ist der »systemschaffende« Herr Dühring keine vereinzelte Erscheinung in der deutschen Gegenwart. Seit einiger Zeit schießen in Deutschland die Systeme der Kosmogonie, der Naturphilosophie überhaupt, der Politik, der Ökonomie usw. über Nacht zu Dutzenden auf wie die Pilze. Der kleinste Doktor Philosophiae, ja selbst der Studiosus tut nicht mehr mit unter einem vollständigen »System«. Wie im modernen Staat vorausgesetzt wird, daß jeder Staatsbürger urteilsreif ist über alle die Fragen, über die er abzustimmen hat; wie man in der Ökonomie annimmt, daß jeder Konsument gründlicher Kenner aller der Waren ist, die er zu seinem Lebensunterhalt einzukaufen in den Fall kommt - so soll es nun auch in der Wissenschaft gehalten werden. Freiheit der Wissenschaft heißt, daß man über alles schreibt, was man nicht gelernt hat, und dies für die einzige streng wissenschaftliche Methode ausgibt. Herr Dühring aber ist einer der bezeichnendsten Typen dieser vorlauten Pseudowissenschaft, die sich heutzutage in Deutschland überall in den Vordergrund drängt und alles übertönt mit ihrem dröhnenden - höhern Blech. Höheres Blech in der Poesie, in der Philosophie, in der Politik, in der Ökonomie, in der Geschichtschreibung, höheres Blech auf Katheder und Tribüne, höheres Blech überall, höheres Blech mit dem Anspruch auf Überlegenheit und Gedankentiefe im Unterschied von dem simpeln, plattvulgären Blech andrer Nationen, höheres Blech das charakteristischste und massenhafteste Produkt der deutschen intellektuellen Industrie, billig aber schlecht, ganz wie andre deutsche Fabrikate, neben denen es leider in Philadelphia nicht vertreten war. Sogar der deutsche Sozialismus, namentlich seit dem guten Beispiel des Herrn Dühring, macht neuerdings recht erklecklich in höherm Blech und produziert diesen und jenen, der sich mit »Wissenschaft« brüstet, von der er »wirklich auch nichts gelernt hat«. Es ist dies eine Kinderkrankheit, die die beginnende Bekehrung des deutschen Studiosus zur Sozialdemokratie anzeigt, und von ihr unzertrennlich ist, die aber bei der merkwürdig gesunden Natur unsrer Arbeiter schon überwunden werden wird.
Es war nicht meine Schuld, wenn ich Herrn Dühring auf Gebiete folgen mußte, auf denen ich mich höchstens mit den Ansprüchen eines Dilettanten bewegen kann. In solchen Fällen habe ich mich meistens darauf beschränkt, den falschen oder schiefen Behauptungen meines Gegners die richtigen, unbestrittnen Tatsachen entgegenzustellen. So in der Juristerei und in manchen Fällen aus der Naturwissenschaft. In andern handelt es sich um allgemeine Ansichten aus der theoretischen Naturwissenschaft, also um ein Terrain, wo auch der Naturforscher von Fach über seine Spezialität hinaus auf benachbarte Gebiete übergreifen muß - auf Gebiete also, auf denen er, nach Herrn Virchows Eingeständnis, ebensogut ein »Halbwisser« ist, wie wir andern auch. Dieselbe Nachsicht für kleine Ungenauigkeiten und Unbehülflichkeiten des Ausdrucks, die man da gegenseitig ausübt, wird man auch mir hoffentlich zuteil werden lassen.
Bei Schluß dieses Vorworts kommt mir eine von Herrn Dühring verfaßte Buchhändleranzeige eines neuen »maßgebenden« Werks des Herrn Dühring zu: »Neue Grundgesetze zur rationellen Physik und Chemie«. Sosehr ich nun auch der Mangelhaftigkeit meiner physikalischen und chemischen Kenntnisse mir bewußt bin, so glaube ich doch meinen Herrn Dühring zu kennen, und daher, ohne die Schrift selbst je gesehn zu haben, voraussagen zu dürfen, daß die hier aufgestellten Gesetze der Physik und Chemie sich den frühern von Herrn Dühring entdeckten und in meiner Schrift untersuchten Gesetzen der Ökonomie, Weltschematik usw., nach Mißverstand oder Gemeinplätzlichkeit würdig anreihen werden, und daß das von Herrn Dühring konstruierte Rhigometer oder Instrument zur |8| Messung sehr niedriger Temperaturen zum Maßstab dienen wird, nicht für Temperaturen, weder hohe noch niedrige, sondern einzig und allein für die unwissende Arroganz des Herrn Dühring.
London, 11. Juni 1878
Daß die vorliegende Schrift in neuer Auflage zu erscheinen hat, kam mir unerwartet. Der Gegenstand, den sie kritisiert, ist heute schon so gut wie vergessen; sie selbst hat nicht nur stückweise im Leipziger »Vorwärts« 1877 und 1878 vielen Tausenden von Lesern vorgelegen, sondern ist auch noch im Zusammenhang und separat in starker Auflage gedruckt worden. Wie kann es da noch jemand interessieren, was ich vor Jahren über Herrn Dühring zu sagen hatte?
In erster Linie verdanke ich dies wohl dem Umstand, daß diese Schrift, wie überhaupt fast alle meine damals noch umlaufenden Schriften, gleich nach Erlaß des Sozialistengesetzes im Deutschen Reich verboten wurde. Wer nicht in den erblichen Beamtenvorurteilen der Länder der Helligen Allianz vernagelt war, für den mußte die Wirkung dieser Maßregel klar sein: verdoppelter und verdreifachter Absatz der verbotnen Bücher, Bloßlegung der Ohnmacht der Herren in Berlin, die Verbote erlassen und sie nicht durchführen können. In der Tat trägt mir die Liebenswürdigkeit der Reichsregierung mehr neue Auflagen meiner kleinern Schriften ein, als ich verantworten kann; ich habe nicht die Zeit, den Text nach Gebühr zu revidieren und muß ihn meist einfach wieder abdrucken lassen.
Dazu kommt aber noch ein andrer Umstand. Das hier kritisierte »System« des Herrn Dühring verbreitet sich über ein sehr ausgedehntes theoretisches Gebiet; ich war genötigt, ihm überallhin zu folgen und seinen Auffassungen die meinigen entgegenzusetzen. Die negative Kritik wurde damit positiv; die Polemik schlug um in eine mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mir vertretnen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung, und dies auf einer ziemlich umfassenden Reihe von Gebieten. Diese unsre Anschauungsweise hat, seit sie zuerst in Marx' »Misére de la philosophie« und im »Kommunistischen Manifest« vor die Welt trat, ein reichlich zwanzigjähriges Inkubationsstadium durchgemacht, bis sie seit dem Erscheinen des |9| »Kapital« mit wachsender Geschwindigkeit stets weitre Kreise ergriff und jetzt, weit über die Grenzen Europas hinaus, Beachtung und Anhang findet in allen Ländern, wo es einerseits Proletarier und andrerseits rücksichtslose wissenschaftliche Theoretiker gibt. Es scheint also, daß ein Publikum besteht, dessen Interesse für die Sache groß genug ist, um die jetzt in vielen Beziehungen gegenstandslose Polemik gegen die Dühringschen Sätze in den Kauf zu nehmen, den daneben gegebnen positiven Entwicklungen zu Gefallen.
Ich bemerke nebenbei: Da die hier entwickelte Anschauungsweise zum weitaus größern Teil von Marx begründet und entwickelt worden, und nur zum geringsten Teil von mir, so verstand es sich unter uns von selbst, daß diese meine Darstellung nicht ohne seine Kenntnis erfolgte. Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie (»Aus der 'Kritischen Geschichte'«) ist von Marx geschrieben und mußte nur, äußerlicher Rücksichten halber, von mir leider etwas verkürzt werden. Es war eben von jeher unser Brauch, uns in Spezialfächern gegenseitig auszuhelfen.
Die gegenwärtige neue Auflage ist, mit Ausnahme eines Kapitels, ein unveränderter Abdruck der vorigen. Einerseits fehlte mir die Zeit zu einer durchgreifenden Revision, sosehr ich manches in der Darstellung geändert wünschte. Aber ich habe die Pflicht, die hinterlassenen Manuskripte von Marx für den Druck fertigzustellen, und dies ist viel wichtiger als alles andre. Dann aber sträubt sich mein Gewissen gegen jede Änderung. Die Schrift ist eine Streitschrift, und ich glaube es meinem Gegner schuldig zu sein, da meinerseits nichts zu bessern, wo er nichts bessern kann. Ich könnte nur das Recht beanspruchen, auf Herrn Dührings Antwort wieder zu entgegnen. Was aber Herr Dühring über meinen Angriff geschrieben hat, habe ich nicht gelesen und werde es nicht ohne besondre Veranlassung lesen; ich bin theoretisch mit ihm fertig. Im übrigen muß ich ihm gegenüber die Anstandsregeln des literarischen Kampfes um so mehr aufrechterhalten, als ihm seitdem von der Berliner Universität schmähliches Unrecht angetan worden ist. Freilich ist sie dafür gezüchtigt worden. Eine Universität, die sich dazu hergibt, Herrn Dühring unter den bekannten Umständen die Lehrfreiheit zu entziehn, darf sich nicht wundern, wenn man ihr unter den ebenfalls bekannten Umständen Herrn Schweninger aufzwingt.
Das einzige Kapitel, worin ich mir erläuternde Zusätze erlaubt habe, |10| ist das zweite des dritten Abschnitts: »Theoretisches«. Hier, wo es sich einzig und allein um die Darstellung eines Kernpunktes der von mir vertretnen Anschauung handelt, wird sich mein Gegner nicht beklagen können, wenn ich mich bemühte, populärer zu sprechen und den Zusammenhang zu ergänzen. Und zwar hatte dies eine äußere Veranlassung. Ich hatte drei Kapitel der Schrift (das erste der Einleitung und das erste und zweite des dritten Abschnitts) für meinen Freund Lafargue behufs Übersetzung ins Französische zu einer selbständigen Broschüre verarbeitet, und nachdem die französische Ausgabe einer italienischen und polnischen als Grundlage gedient, eine deutsche Ausgabe besorgt unter dem Titel: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«. Diese hat in wenigen Monaten drei Auflagen erlebt und ist auch in russischer und dänischer Übersetzung erschienen. Zusätze hatte in allen diesen Ausgaben nur das fragliche Kapitel erhalten, und es wäre pedantisch gewesen, hätte ich in der neuen Auflage des Originalwerks mich an den ursprünglichen Wortlaut binden wollen, gegenüber seiner spätern, international gewordnen Gestalt.
Was ich sonst geändert wünschte, bezieht sich hauptsächlich auf zwei Punkte. Erstens auf die menschliche Urgeschichte, zu der uns Morgan erst 1877 den Schlüssel lieferte. Da ich aber seitdem in meiner Schrift: »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats«, Zürich 1884, Gelegenheit hatte, das mir inzwischen zugänglich gewordne Material zu verarbeiten, genügt der Hinweis auf diese spätere Arbeit.
Zweitens aber der Teil, der von der theoretischen Naturwissenschaft handelt. Hier herrscht eine große Unbeholfenheit der Darstellung, und manches ließe sich heute klarer und bestimmter ausdrücken. Wenn ich mir nicht das Recht zuschreibe, hier zu bessern, so bin ich eben deswegen verpflichtet, mich statt dessen hier selbst zu kritisieren.
Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinübergerettet hatten. Aber zu einer dialektischen und zugleich materialistischen Auffassung der Natur gehört Bekanntschaft mit der Mathematik und der Naturwissenschaft. Marx war ein gründlicher Mathematiker, aber die Naturwissenschaften konnten wir nur stückweise, sprungweise, sporadisch verfolgen. Als ich daher durch Rückzug aus dem kaufmännischen Geschäft und Umzug nach London die Zeit dazu gewann, machte ich, soweit es mir möglich, eine vollständige |11| mathematische und naturwissenschaftliche »Mauserung«, (1) wie Liebig es nennt, durch, und verwandte den besten Teil von acht Jahren darauf. Ich war grade mitten in diesem Mauserungsprozeß begriffen, als ich in den Fall kam, mich mit Herrn Dührings sogenannter Naturphilosophie zu befassen. Wenn ich also da manchmal den richtigen technischen Ausdruck nicht finde und mich überhaupt mit ziemlicher Schwerfälligkeit auf dem Gebiet der theoretischen Naturwissenschaft bewege, so ist das nur zu natürlich. Andrerseits hat mich aber das Bewußtsein meiner noch nicht überwunden Unsicherheit vorsichtig gemacht; wirkliche Verstöße gegen die damals bekannten Tatsachen und unrichtige Darstellung der damals anerkannten Theorien wird man mir nicht nachweisen können. In dieser Beziehung hat sich nur ein verkannter großer Mathematiker bei Marx brieflich beklagt, ich hätte die frevelhaft an ihrer Ehre angegriffen.
Es handelte sich bei dieser meiner Rekapitulation der Mathematik und der Naturwissenschaften selbstredend darum, mich auch im einzelnen zu überzeugen - woran im allgemeinen kein Zweifel für mich war -, daß in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen; dieselben Gesetze, die, ebenfalls in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens den durchlaufenden Faden bildend, allmählich den denkenden Menschen zum Bewußtsein kommen; die zuerst von Hegel in umfassender Weise, aber in mystifizierter Form entwickelt worden, und die aus dieser mystischen Form herauszuschälen und in ihrer ganzen Einfachheit und Allgemeingültigkeit klar zur Bewußtheit zu bringen, eine unsrer Bestrebungen war. Es verstand sich von selbst, daß die alte Naturphilosophie - soviel wirklich Gutes und soviel fruchtbare Keime sie enthielt (1) - uns nicht genügen |12| konnte. Wie in dieser Schrift näher entwickelt, fehlte sie, namentlich in der Hegelschen Form, darin, daß sie der Natur keine Entwicklung in der Zeit zuerkannte, kein »Nacheinander«, sondern nur ein »Nebeneinander«. Dies war einerseits im Hegelschen System selbst begründet, das nur dem »Geist« eine geschichtliche Fortentwicklung zuschrieb, andrerseits aber auch im damaligen Gesamtstand der Naturwissenschaften. So fiel Hegel hier weit hinter Kant zurück, dessen Nebulartheorie bereits die Entstehung, und dessen Entdeckung der Hemmung der Erdrotation durch die Meeresflutwelle auch schon den Untergang des Sonnensystems proklamiert hatte. Und endlich konnte es sich für mich nicht darum handeln, die dialektischen Gesetze in die Natur hineinzukonstruieren, sondern sie in ihr aufzufinden und aus ihr zu entwickeln.
Dies im Zusammenhang und auf jedem einzelnen Gebiet zu tun, ist aber eine Riesenarbeit. Nicht nur ist das zu beherrschende Gebiet fast unermeßlich, es ist auch auf diesem gesamten Gebiet die Naturwissenschaft selbst in einem so gewaltsamen Umwälzungsprozeß begriffen, daß auch derjenige kaum folgen kann, dem seine ganze freie Zeit hierfür zur Verfügung steht. Seit dem Tode von Karl Marx ist meine Zeit aber durch dringendere Pflichten mit Beschlag belegt worden, und da mußte ich meine Arbeit unterbrechen. Ich muß mich vorderhand mit den in der vorliegenden Schrift gegebnen Andeutungen begnügen und abwarten, ob sich später einmal Gelegenheit findet, die gewonnenen Resultate zu sammeln und her- |13| auszugeben, vielleicht zusammen mit den hinterlassenen höchst wichtigen mathematischen Manuskripten von Marx.
Vielleicht aber macht der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaft meine Arbeit größtenteils oder ganz überflüssig. Denn die Revolution, die der theoretischen Naturwissenschaft aufgezwungen wird durch die bloße Notwendigkeit, die sich massenhaft häufenden, rein empirischen Entdeckungen zu ordnen, ist der Art, daß sie den dialektischen Charakter der Naturvorgänge mehr und mehr auch dem widerstrebendsten Empiriker zum Bewußtsein bringen muß. Die alten starren Gegensätze, die scharfen, unüberschreitbaren Grenzlinien verschwinden mehr und mehr. Seit der Flüssigmachung auch der letzten »echten« Gase, seit dem Nachweis, daß ein Körper in einen Zustand versetzt werden kann, worin tropfbare und Gasform ununterscheidbar sind, haben die Aggregatzustände den letzten Rest ihres frühern absoluten Charakters verloren. Mit dem Satz der kinetischen Gastheorie, daß in vollkommnen Gasen die Quadrate der Geschwindigkeiten, womit die einzelnen Gasmoleküle sich bewegen, sich bei gleicher Temperatur umgekehrt verhalten wie die Molekulargewichte, tritt die Wärme auch direkt in die Reihe der unmittelbar als solche meßbaren Bewegungsformen. Wurde noch vor zehn Jahren das neuentdeckte große Grundgesetz der Bewegung gefaßt als bloßes Gesetz von der Erhaltung der Energie, als bloßer Ausdruck der Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit der Bewegung, also bloß nach seiner quantitativen Seite, so wird dieser enge, negative Ausdruck mehr und mehr verdrängt durch den positiven der Verwandlung der Energie, worin erst der qualitative Inhalt des Prozesses zu seinem Recht kommt und worin die letzte Erinnerung an den außerweltlichen Schöpfer ausgelöscht ist. Daß die Menge der Bewegung (der sogenannten Energie) sich nicht verändert, wenn sie sich aus kinetischer Energie (sogenannter mechanischer Kraft) in Elektrizität, Wärme, potentielle Energie der Lage etc. verwandelt und umgekehrt, braucht jetzt nicht mehr als etwas Neues gepredigt zu werden; es dient als einmal gewonnene Grundlage der nun viel inhaltsvollern Untersuchung des Verwandlungsprozesses selbst, des großen Grundprozesses, in dessen Erkenntnis die ganze Erkenntnis der Natur sich zusammenfaßt. Und seitdem die Biologie mit der Leuchte der Evolutionstheorie betrieben wird, hat sich auf dem Gebiet der organischen Natur eine starre Grenzlinie der Klassifikation nach der andern aufgelöst; die fast unklassifizierbaren Mittelglieder mehren sich täglich, die genauere Untersuchung wirft Organismen aus einer Klasse in die andre, und fast zu Glaubensartikeln gewordne Unterscheidungsmerkmale verlieren ihre unbedingte Gültigkeit; wir haben |14| jetzt eierlegende Säugetiere, und wenn die Nachricht sich bestätigt, auch Vögel, die auf allen vieren gehn. War schon vor Jahren Virchow genötigt gewesen, infolge der Entdeckung der Zelle die Einheit des tierischen Individuums mehr fortschrittlich als naturwissenschaftlich und dialektisch in eine Föderation von Zellenstaaten aufzulösen, so wird der Begriff der tierischen (also auch menschlichen) Individualität noch weit verwickelter durch die Entdeckung der amöbenartig im Körper der höhern Tiere herumkriechenden weißen Blutzellen. Es sind aber grade die als unversöhnlich und unlösbar vorgestellten polaren Gegensätze, die gewaltsam fixierten Grenzlinien und Klassenunterschiede, die der modernen theoretischen Naturwissenschaft ihren beschränkt-metaphysischen Charakter gegeben haben. Die Erkenntnis, daß diese Gegensätze und Unterschiede in der Natur zwar vorkommen, aber nur mit relativer Gültigkeit, daß dagegen jene ihre vorgestellte Starrheit und absolute Gültigkeit erst durch unsre Reflexion in die Natur hineingetragen ist - diese Erkenntnis macht den Kernpunkt der dialektischen Auffassung der Natur aus. Man kann zu ihr gelangen, indem man von den sich häufenden Tatsachen der Naturwissenschaft dazu gezwungen wird; man gelangt leichter dahin, wenn man dem dialektischen Charakter dieser Tatsachen das Bewußtsein der Gesetze des dialektischen Denkens entgegenbringt. Jedenfalls ist die Naturwissenschaft jetzt so weit, daß sie der dialektischen Zusammenfassung nicht mehr entrinnt. Sie wird sich diesen Prozeß aber erleichtern, wenn sie nicht vergißt, daß die Resultate, worin sich ihre Erfahrungen zusammenfassen, Begriffe sind; daß aber die Kunst, mit Begriffen zu operieren, nicht eingeboren und auch nicht mit dem gewöhnlichen Alltagsbewußtsein gegeben ist, sondern wirkliches Denken erfordert, welches Denken ebenfalls eine lange erfahrungsmäßige Geschichte hat, nicht mehr und nicht minder als die erfahrungsmäßige Naturforschung. Eben dadurch, daß sie sich die Resultate der dritthalbtausendjährigen Entwicklung der Philosophie aneignen lernt, wird sie einerseits jede aparte, außer und über ihr stehende Naturphilosophie los, andrerseits aber auch ihre eigne, aus dem englischen Empirismus überkommne, bornierte Denkmethode.
Daß die vorliegende Schrift in neuer Auflage zu erscheinen hat, kam mir unerwartet. Der Gegenstand, den sie kritisiert, ist heute schon so gut wie vergessen; sie selbst hat nicht nur stückweise im Leipziger »Vorwärts« 1877 und 1878 vielen Tausenden von Lesern vorgelegen, sondern ist auch noch im Zusammenhang und separat in starker Auflage gedruckt worden. Wie kann es da noch jemand interessieren, was ich vor Jahren über Herrn Dühring zu sagen hatte?
In erster Linie verdanke ich dies wohl dem Umstand, daß diese Schrift, wie überhaupt fast alle meine damals noch umlaufenden Schriften, gleich nach Erlaß des Sozialistengesetzes im Deutschen Reich verboten wurde. Wer nicht in den erblichen Beamtenvorurteilen der Länder der Helligen Allianz vernagelt war, für den mußte die Wirkung dieser Maßregel klar sein: verdoppelter und verdreifachter Absatz der verbotnen Bücher, Bloßlegung der Ohnmacht der Herren in Berlin, die Verbote erlassen und sie nicht durchführen können. In der Tat trägt mir die Liebenswürdigkeit der Reichsregierung mehr neue Auflagen meiner kleinern Schriften ein, als ich verantworten kann; ich habe nicht die Zeit, den Text nach Gebühr zu revidieren und muß ihn meist einfach wieder abdrucken lassen.
Dazu kommt aber noch ein andrer Umstand. Das hier kritisierte »System« des Herrn Dühring verbreitet sich über ein sehr ausgedehntes theoretisches Gebiet; ich war genötigt, ihm überallhin zu folgen und seinen Auffassungen die meinigen entgegenzusetzen. Die negative Kritik wurde damit positiv; die Polemik schlug um in eine mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mir vertretnen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung, und dies auf einer ziemlich umfassenden Reihe von Gebieten. Diese unsre Anschauungsweise hat, seit sie zuerst in Marx' »Misére de la philosophie« und im »Kommunistischen Manifest« vor die Welt trat, ein reichlich zwanzigjähriges Inkubationsstadium durchgemacht, bis sie seit dem Erscheinen des |9| »Kapital« mit wachsender Geschwindigkeit stets weitre Kreise ergriff und jetzt, weit über die Grenzen Europas hinaus, Beachtung und Anhang findet in allen Ländern, wo es einerseits Proletarier und andrerseits rücksichtslose wissenschaftliche Theoretiker gibt. Es scheint also, daß ein Publikum besteht, dessen Interesse für die Sache groß genug ist, um die jetzt in vielen Beziehungen gegenstandslose Polemik gegen die Dühringschen Sätze in den Kauf zu nehmen, den daneben gegebnen positiven Entwicklungen zu Gefallen.
Ich bemerke nebenbei: Da die hier entwickelte Anschauungsweise zum weitaus größern Teil von Marx begründet und entwickelt worden, und nur zum geringsten Teil von mir, so verstand es sich unter uns von selbst, daß diese meine Darstellung nicht ohne seine Kenntnis erfolgte. Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie (»Aus der 'Kritischen Geschichte'«) ist von Marx geschrieben und mußte nur, äußerlicher Rücksichten halber, von mir leider etwas verkürzt werden. Es war eben von jeher unser Brauch, uns in Spezialfächern gegenseitig auszuhelfen.
Die gegenwärtige neue Auflage ist, mit Ausnahme eines Kapitels, ein unveränderter Abdruck der vorigen. Einerseits fehlte mir die Zeit zu einer durchgreifenden Revision, sosehr ich manches in der Darstellung geändert wünschte. Aber ich habe die Pflicht, die hinterlassenen Manuskripte von Marx für den Druck fertigzustellen, und dies ist viel wichtiger als alles andre. Dann aber sträubt sich mein Gewissen gegen jede Änderung. Die Schrift ist eine Streitschrift, und ich glaube es meinem Gegner schuldig zu sein, da meinerseits nichts zu bessern, wo er nichts bessern kann. Ich könnte nur das Recht beanspruchen, auf Herrn Dührings Antwort wieder zu entgegnen. Was aber Herr Dühring über meinen Angriff geschrieben hat, habe ich nicht gelesen und werde es nicht ohne besondre Veranlassung lesen; ich bin theoretisch mit ihm fertig. Im übrigen muß ich ihm gegenüber die Anstandsregeln des literarischen Kampfes um so mehr aufrechterhalten, als ihm seitdem von der Berliner Universität schmähliches Unrecht angetan worden ist. Freilich ist sie dafür gezüchtigt worden. Eine Universität, die sich dazu hergibt, Herrn Dühring unter den bekannten Umständen die Lehrfreiheit zu entziehn, darf sich nicht wundern, wenn man ihr unter den ebenfalls bekannten Umständen Herrn Schweninger aufzwingt.
Das einzige Kapitel, worin ich mir erläuternde Zusätze erlaubt habe, |10| ist das zweite des dritten Abschnitts: »Theoretisches«. Hier, wo es sich einzig und allein um die Darstellung eines Kernpunktes der von mir vertretnen Anschauung handelt, wird sich mein Gegner nicht beklagen können, wenn ich mich bemühte, populärer zu sprechen und den Zusammenhang zu ergänzen. Und zwar hatte dies eine äußere Veranlassung. Ich hatte drei Kapitel der Schrift (das erste der Einleitung und das erste und zweite des dritten Abschnitts) für meinen Freund Lafargue behufs Übersetzung ins Französische zu einer selbständigen Broschüre verarbeitet, und nachdem die französische Ausgabe einer italienischen und polnischen als Grundlage gedient, eine deutsche Ausgabe besorgt unter dem Titel: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«. Diese hat in wenigen Monaten drei Auflagen erlebt und ist auch in russischer und dänischer Übersetzung erschienen. Zusätze hatte in allen diesen Ausgaben nur das fragliche Kapitel erhalten, und es wäre pedantisch gewesen, hätte ich in der neuen Auflage des Originalwerks mich an den ursprünglichen Wortlaut binden wollen, gegenüber seiner spätern, international gewordnen Gestalt.
Was ich sonst geändert wünschte, bezieht sich hauptsächlich auf zwei Punkte. Erstens auf die menschliche Urgeschichte, zu der uns Morgan erst 1877 den Schlüssel lieferte. Da ich aber seitdem in meiner Schrift: »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats«, Zürich 1884, Gelegenheit hatte, das mir inzwischen zugänglich gewordne Material zu verarbeiten, genügt der Hinweis auf diese spätere Arbeit.
Zweitens aber der Teil, der von der theoretischen Naturwissenschaft handelt. Hier herrscht eine große Unbeholfenheit der Darstellung, und manches ließe sich heute klarer und bestimmter ausdrücken. Wenn ich mir nicht das Recht zuschreibe, hier zu bessern, so bin ich eben deswegen verpflichtet, mich statt dessen hier selbst zu kritisieren.
Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinübergerettet hatten. Aber zu einer dialektischen und zugleich materialistischen Auffassung der Natur gehört Bekanntschaft mit der Mathematik und der Naturwissenschaft. Marx war ein gründlicher Mathematiker, aber die Naturwissenschaften konnten wir nur stückweise, sprungweise, sporadisch verfolgen. Als ich daher durch Rückzug aus dem kaufmännischen Geschäft und Umzug nach London die Zeit dazu gewann, machte ich, soweit es mir möglich, eine vollständige |11| mathematische und naturwissenschaftliche »Mauserung«, wie Liebig es nennt, durch, und verwandte den besten Teil von acht Jahren darauf. Ich war grade mitten in diesem Mauserungsprozeß begriffen, als ich in den Fall kam, mich mit Herrn Dührings sogenannter Naturphilosophie zu befassen. Wenn ich also da manchmal den richtigen technischen Ausdruck nicht finde und mich überhaupt mit ziemlicher Schwerfälligkeit auf dem Gebiet der theoretischen Naturwissenschaft bewege, so ist das nur zu natürlich. Andrerseits hat mich aber das Bewußtsein meiner noch nicht überwunden Unsicherheit vorsichtig gemacht; wirkliche Verstöße gegen die damals bekannten Tatsachen und unrichtige Darstellung der damals anerkannten Theorien wird man mir nicht nachweisen können. In dieser Beziehung hat sich nur ein verkannter großer Mathematiker bei Marx brieflich beklagt, ich hätte die frevelhaft an ihrer Ehre angegriffen.
Es handelte sich bei dieser meiner Rekapitulation der Mathematik und der Naturwissenschaften selbstredend darum, mich auch im einzelnen zu überzeugen - woran im allgemeinen kein Zweifel für mich war -, daß in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen; dieselben Gesetze, die, ebenfalls in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens den durchlaufenden Faden bildend, allmählich den denkenden Menschen zum Bewußtsein kommen; die zuerst von Hegel in umfassender Weise, aber in mystifizierter Form entwickelt worden, und die aus dieser mystischen Form herauszuschälen und in ihrer ganzen Einfachheit und Allgemeingültigkeit klar zur Bewußtheit zu bringen, eine unsrer Bestrebungen war. Es verstand sich von selbst, daß die alte Naturphilosophie - soviel wirklich Gutes und soviel fruchtbare Keime sie enthielt (1) - uns nicht genügen |12| konnte. Wie in dieser Schrift näher entwickelt, fehlte sie, namentlich in der Hegelschen Form, darin, daß sie der Natur keine Entwicklung in der Zeit zuerkannte, kein »Nacheinander«, sondern nur ein »Nebeneinander«. Dies war einerseits im Hegelschen System selbst begründet, das nur dem »Geist« eine geschichtliche Fortentwicklung zuschrieb, andrerseits aber auch im damaligen Gesamtstand der Naturwissenschaften. So fiel Hegel hier weit hinter Kant zurück, dessen Nebulartheorie bereits die Entstehung, und dessen Entdeckung der Hemmung der Erdrotation durch die Meeresflutwelle auch schon den Untergang des Sonnensystems proklamiert hatte. Und endlich konnte es sich für mich nicht darum handeln, die dialektischen Gesetze in die Natur hineinzukonstruieren, sondern sie in ihr aufzufinden und aus ihr zu entwickeln.
Dies im Zusammenhang und auf jedem einzelnen Gebiet zu tun, ist aber eine Riesenarbeit. Nicht nur ist das zu beherrschende Gebiet fast unermeßlich, es ist auch auf diesem gesamten Gebiet die Naturwissenschaft selbst in einem so gewaltsamen Umwälzungsprozeß begriffen, daß auch derjenige kaum folgen kann, dem seine ganze freie Zeit hierfür zur Verfügung steht. Seit dem Tode von Karl Marx ist meine Zeit aber durch dringendere Pflichten mit Beschlag belegt worden, und da mußte ich meine Arbeit unterbrechen. Ich muß mich vorderhand mit den in der vorliegenden Schrift gegebnen Andeutungen begnügen und abwarten, ob sich später einmal Gelegenheit findet, die gewonnenen Resultate zu sammeln und her- |13| auszugeben, vielleicht zusammen mit den hinterlassenen höchst wichtigen mathematischen Manuskripten von Marx.
Vielleicht aber macht der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaft meine Arbeit größtenteils oder ganz überflüssig. Denn die Revolution, die der theoretischen Naturwissenschaft aufgezwungen wird durch die bloße Notwendigkeit, die sich massenhaft häufenden, rein empirischen Entdeckungen zu ordnen, ist der Art, daß sie den dialektischen Charakter der Naturvorgänge mehr und mehr auch dem widerstrebendsten Empiriker zum Bewußtsein bringen muß. Die alten starren Gegensätze, die scharfen, unüberschreitbaren Grenzlinien verschwinden mehr und mehr. Seit der Flüssigmachung auch der letzten »echten« Gase, seit dem Nachweis, daß ein Körper in einen Zustand versetzt werden kann, worin tropfbare und Gasform ununterscheidbar sind, haben die Aggregatzustände den letzten Rest ihres frühern absoluten Charakters verloren. Mit dem Satz der kinetischen Gastheorie, daß in vollkommnen Gasen die Quadrate der Geschwindigkeiten, womit die einzelnen Gasmoleküle sich bewegen, sich bei gleicher Temperatur umgekehrt verhalten wie die Molekulargewichte, tritt die Wärme auch direkt in die Reihe der unmittelbar als solche meßbaren Bewegungsformen. Wurde noch vor zehn Jahren das neuentdeckte große Grundgesetz der Bewegung gefaßt als bloßes Gesetz von der Erhaltung der Energie, als bloßer Ausdruck der Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit der Bewegung, also bloß nach seiner quantitativen Seite, so wird dieser enge, negative Ausdruck mehr und mehr verdrängt durch den positiven der Verwandlung der Energie, worin erst der qualitative Inhalt des Prozesses zu seinem Recht kommt und worin die letzte Erinnerung an den außerweltlichen Schöpfer ausgelöscht ist. Daß die Menge der Bewegung (der sogenannten Energie) sich nicht verändert, wenn sie sich aus kinetischer Energie (sogenannter mechanischer Kraft) in Elektrizität, Wärme, potentielle Energie der Lage etc. verwandelt und umgekehrt, braucht jetzt nicht mehr als etwas Neues gepredigt zu werden; es dient als einmal gewonnene Grundlage der nun viel inhaltsvollern Untersuchung des Verwandlungsprozesses selbst, des großen Grundprozesses, in dessen Erkenntnis die ganze Erkenntnis der Natur sich zusammenfaßt. Und seitdem die Biologie mit der Leuchte der Evolutionstheorie betrieben wird, hat sich auf dem Gebiet der organischen Natur eine starre Grenzlinie der Klassifikation nach der andern aufgelöst; die fast unklassifizierbaren Mittelglieder mehren sich täglich, die genauere Untersuchung wirft Organismen aus einer Klasse in die andre, und fast zu Glaubensartikeln gewordne Unterscheidungsmerkmale verlieren ihre unbedingte Gültigkeit; wir haben |14| jetzt eierlegende Säugetiere, und wenn die Nachricht sich bestätigt, auch Vögel, die auf allen vieren gehn. War schon vor Jahren Virchow genötigt gewesen, infolge der Entdeckung der Zelle die Einheit des tierischen Individuums mehr fortschrittlich als naturwissenschaftlich und dialektisch in eine Föderation von Zellenstaaten aufzulösen, so wird der Begriff der tierischen (also auch menschlichen) Individualität noch weit verwickelter durch die Entdeckung der amöbenartig im Körper der höhern Tiere herumkriechenden weißen Blutzellen. Es sind aber grade die als unversöhnlich und unlösbar vorgestellten polaren Gegensätze, die gewaltsam fixierten Grenzlinien und Klassenunterschiede, die der modernen theoretischen Naturwissenschaft ihren beschränkt-metaphysischen Charakter gegeben haben. Die Erkenntnis, daß diese Gegensätze und Unterschiede in der Natur zwar vorkommen, aber nur mit relativer Gültigkeit, daß dagegen jene ihre vorgestellte Starrheit und absolute Gültigkeit erst durch unsre Reflexion in die Natur hineingetragen ist - diese Erkenntnis macht den Kernpunkt der dialektischen Auffassung der Natur aus. Man kann zu ihr gelangen, indem man von den sich häufenden Tatsachen der Naturwissenschaft dazu gezwungen wird; man gelangt leichter dahin, wenn man dem dialektischen Charakter dieser Tatsachen das Bewußtsein der Gesetze des dialektischen Denkens entgegenbringt. Jedenfalls ist die Naturwissenschaft jetzt so weit, daß sie der dialektischen Zusammenfassung nicht mehr entrinnt. Sie wird sich diesen Prozeß aber erleichtern, wenn sie nicht vergißt, daß die Resultate, worin sich ihre Erfahrungen zusammenfassen, Begriffe sind; daß aber die Kunst, mit Begriffen zu operieren, nicht eingeboren und auch nicht mit dem gewöhnlichen Alltagsbewußtsein gegeben ist, sondern wirkliches Denken erfordert, welches Denken ebenfalls eine lange erfahrungsmäßige Geschichte hat, nicht mehr und nicht minder als die erfahrungsmäßige Naturforschung. Eben dadurch, daß sie sich die Resultate der dritthalbtausendjährigen Entwicklung der Philosophie aneignen lernt, wird sie einerseits jede aparte, außer und über ihr stehende Naturphilosophie los, andrerseits aber auch ihre eigne, aus dem englischen Empirismus überkommne, bornierte Denkmethode.
London, 23. September 1885
Die nachfolgende Neuauflage ist bis auf einige sehr unbedeutende stilistische Änderungen ein Wiederabdruck der vorigen. Nur in einem Kapitel, |15| dem zehnten des zweiten Abschnitts: »Aus der 'Kritischen Geschichte'«, habe ich mir wesentliche Zusätze erlaubt, und zwar aus folgenden Gründen.
Wie schon in der Vorrede zur zweiten Auflage erwähnt, rührt dies Kapitel in allem Wesentlichen von Marx her. In seiner ersten, für einen Journalartikel bestimmten Fassung war ich genötigt, das Marxsche Manuskript bedeutend zu kürzen, und zwar grade in denjenigen Partien, wo die Kritik der Dühringschen Aufstellungen mehr zurücktritt gegenüber selbständigen Entwicklungen aus der Geschichte der Ökonomie. Diese aber machen grade den Teil des Manuskripts aus, der auch heute noch vom größten und bleibendsten Interesse ist. Die Ausführungen, worin Marx Leuten wie Petty, North, Locke, Hume die ihnen gebührende Stelle in der Genesis der klassischen Ökonomie anweist, halte ich mich für verpflichtet, möglichst vollständig und wörtlich zu geben; noch mehr aber seine Klarstellung des »ökonomischen Tableaus« von Quesnay, dieses für die ganze moderne Ökonomie unlösbar gebliebnen Sphinxrätsels. Was sich dagegen ausschließlich auf Herrn Dührings Schriften bezog, habe ich, soweit der Zusammenhang dies erlaubte, weggelassen.
Im übrigen kann ich vollständig zufrieden sein mit der Ausbreitung, die die in dieser Schrift vertretnen Anschauungen, seit der vorigen Auflage, im öffentlichen Bewußtsein der Wissenschaft und der Arbeiterklasse gemacht haben, und zwar in allen zivilisierten Ländern der Welt.
London, 23. Mai 1894
F. Engels
(1) Es ist viel leichter, mit dem gedankenlosen Vulgus à la Karl Vogt über die alte Naturphilosophie herzufallen, als ihre geschichtliche Bedeutung zu würdigen. Sie enthält viel Unsinn und Phantasterei, aber nicht mehr als die gleichzeitigen unphilosophischen Theorien der empirischen Naturforscher, und daß sie auch viel Sinn und Verstand enthält, fängt man seit der Verbreitung der Entwicklungstheorie an einzusehen. So hat Haeckel mit vollem Recht die Verdienste von Treviranus und Oken anerkannt. Oken stellt in seinem Urschleim und Urbläschen dasjenige als Postulat der Biologie auf, was seitdem als Protoplasma und Zelle wirklich entdeckt worden. Was speziell Hegel angeht, steht er in vieler Beziehung hoch über seinen empirischen Zeitgenossen, die alle unerklärten Erscheinungen erklärt zu haben glaubten, wenn sie ihnen eine Kraft - Schwerkraft, Schwimmkraft, elektrische Kontaktkraft usw. - unterschoben, oder wo dies nicht ging, einen unbekannten Stoff, Lichtstoff, Wärmestoff, Elektrizitätsstoff usw. Die imaginären Stoffe sind jetzt so ziemlich beseitigt, aber der von Hegel bekämpfte Kräfteschwindel spukt z.B. noch 1869 in Helmholtz' Innsbrucker Rede lustig fort (Helmholtz »Populäre Vorlesungen«, II. Heft, 1871, Seite 190). Gegenüber der von den Franzosen des 18. Jahrhunderts überkommnen Vergötterung Newtons, den England mit Ehren und Reichtum überhäufte, hob Hegel hervor, daß Kepler, den Deutschland verhungern ließ, der eigentliche Begründer der modernen Mechanik der Weltkörper, und daß das Newtonsche Gravitationsgesetz bereits in allen drei Keplerschen Gesetzen, im dritten sogar ausdrücklich enthalten ist. Was Hegel in seiner »Naturphilosophie«, § 270 und Zusätze (Hegels Werke, 1842, VII. Band, Seite 98 und 113 bis 115) mit ein paar einfachen Gleichungen nachweist, findet sich als Resultat der neuesten mathematischen Mechanik wieder bei Gustav Kirchhof »Vorlesungen über mathematische Physik«, 2. Auflage, Leipzig 1877, Seite 10, und in wesentlich derselben, von Hegel zuerst entwickelten, einfachen, mathematischen Form. Naturphilosophen verhalten sich zur bewußt-dialektischen Naturwissenschaft wie die Utopisten zum modernen Kommunismus.
Fußnote von Friedrich Engels:
(1) Es ist viel leichter, mit dem gedankenlosen Vulgus à la Karl Vogt über die alte Naturphilosophie herzufallen, als ihre geschichtliche Bedeutung zu würdigen. Sie enthält viel Unsinn und Phantasterei, aber nicht mehr als die gleichzeitigen unphilosophischen Theorien der empirischen Naturforscher, und daß sie auch viel Sinn und Verstand enthält, fängt man seit der Verbreitung der Entwicklungstheorie an einzusehen. So hat Haeckel mit vollem Recht die Verdienste von Treviranus und Oken anerkannt. Oken stellt in seinem Urschleim und Urbläschen dasjenige als Postulat der Biologie auf, was seitdem als Protoplasma und Zelle wirklich entdeckt worden. Was speziell Hegel angeht, steht er in vieler Beziehung hoch über seinen empirischen Zeitgenossen, die alle unerklärten Erscheinungen erklärt zu haben glaubten, wenn sie ihnen eine Kraft - Schwerkraft, Schwimmkraft, elektrische Kontaktkraft usw. - unterschoben, oder wo dies nicht ging, einen unbekannten Stoff, Lichtstoff, Wärmestoff, Elektrizitätsstoff usw. Die imaginären Stoffe sind jetzt so ziemlich beseitigt, aber der von Hegel bekämpfte Kräfteschwindel spukt z.B. noch 1869 in Helmholtz' Innsbrucker Rede lustig fort (Helmholtz »Populäre Vorlesungen«, II. Heft, 1871, Seite 190). Gegenüber der von den Franzosen des 18. Jahrhunderts überkommnen Vergötterung Newtons, den England mit Ehren und Reichtum überhäufte, hob Hegel hervor, daß Kepler, den Deutschland verhungern ließ, der eigentliche Begründer der modernen Mechanik der Weltkörper, und daß das Newtonsche Gravitationsgesetz bereits in allen drei Keplerschen Gesetzen, im dritten sogar ausdrücklich enthalten ist. Was Hegel in seiner »Naturphilosophie«, § 270 und Zusätze (Hegels Werke, 1842, VII. Band, Seite 98 und 113 bis 115) mit ein paar einfachen Gleichungen nachweist, findet sich als Resultat der neuesten mathematischen Mechanik wieder bei Gustav Kirchhof »Vorlesungen über mathematische Physik«, 2. Auflage, Leipzig 1877, Seite 10, und in wesentlich derselben, von Hegel zuerst entwickelten, einfachen, mathematischen Form. Naturphilosophen verhalten sich zur bewußt-dialektischen Naturwissenschaft wie die Utopisten zum modernen Kommunismus.