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DRITTER ABSCHNITT. Sozialismus

I. Geschichtliches

|239| Wir sahen in der Einleitung, wie die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, die Vorbereiter der Revolution, an die Vernunft appellierten, als einzige Richterin über alles, was bestand. Ein vernünftiger Staat, eine vernünftige Gesellschaft sollten hergestellt, alles, was der ewigen Vernunft widersprach, sollte ohne Barmherzigkeit beseitigt werden. Wir sahen ebenfalls, daß diese ewige Vernunft in Wirklichkeit nichts andres war, als der idealisierte Verstand des eben damals zum Bourgeois sich fortentwickelnden Mittelbürgers. Als nun die französische Revolution diese Vernunftgesellschaft und diesen Vernunftstaat verwirklicht hatte, stellten sich daher die neuen Einrichtungen, so rationell sie auch waren gegenüber den frühern Zuständen, keineswegs als absolut vernünftige heraus. Der Vernunftstaat war vollständig in die Brüche gegangen. Der Rousseausche Gesellschaftsvertrag hatte seine Verwirklichung gefunden in der Schreckenszeit, aus der das an seiner eignen politischen Befähigung irre gewordne Bürgertum sich geflüchtet hatte zuerst in die Korruption des Direktoriums und schließlich unter den Schutz des napoleonischen Despotismus. Der verheißene ewige Friede war umgeschlagen in einen endlosen Eroberungskrieg. Die Vernunftgesellschaft war nicht besser gefahren. Der Gegensatz von reich und arm, statt sich aufzulösen im allgemeinen Wohlergehn, war verschärft worden durch die Beseitigung der ihn überbrückenden zünftigen und andern Privilegien und der ihn mildernden kirchlichen Wohltätigkeitsanstalten; der Aufschwung der Industrie auf kapitalistischer Grundlage erhob Armut und Elend der arbeitenden Massen zu einer Lebensbedingung der Gesellschaft. Die Zahl der Verbrechen nahm zu von |240| Jahr zu Jahr. Waren die früher am hellen Tage sich ungescheut ergehenden feudalen Laster zwar nicht vernichtet, so doch vorläufig in den Hintergrund gedrängt, so schossen dafür die, bisher nur in der Stille gehegten, bürgerlichen Laster um so üppiger in die Blüte. Der Handel entwickelte sich mehr und mehr zur Prellerei. Die »Brüderlichkeit« der revolutionären Devise verwirklichte sich in den Schikanen und dem Neid des Konkurrenzkampfs. An die Stelle der gewaltsamen Unterdrückung trat die Korruption, an die Stelle des Degens, als des ersten gesellschaftlichen Machthebels, das Geld. Das Recht der ersten Nacht ging über von den Feudalherren auf die bürgerlichen Fabrikanten. Die Prostitution breitete sich aus in bisher unerhörtem Maß. Die Ehe selbst blieb, nach wie vor, gesetzlich anerkannte Form, offizieller Deckmantel der Prostitution, und ergänzte sich zudem durch reichlichen Ehebruch. Kurzum, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die durch den »Sieg der Vernunft« hergestellten gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen als bitter enttäuschende Zerrbilder. Es fehlten nur noch die Leute, die diese Enttäuschung konstatierten, und diese kamen mit der Wende des Jahrhunderts. 1802 erschienen Saint-Simons Genfer Briefe; 1808 erschien Fouriers erstes Werk, obwohl die Grundlage seiner Theorie schon von 1799 datierte; am ersten Januar 1800 übernahm Robert Owen die Leitung von New Lanark.

Um diese Zeit aber war die kapitalistische Produktionsweise und mit ihr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat noch sehr unentwickelt. Die große Industrie, in England eben erst entstanden, war in Frankreich noch unbekannt. Aber erst die große Industrie entwickelt einerseits die Konflikte, die eine Umwälzung der Produktionsweise zur zwingenden Notwendigkeit erheben - Konflikte nicht nur der von ihr erzeugten Klassen, sondern auch der von ihr geschaffnen Produktivkräfte und Austauschformen selbst -; und sie entwickelt andrerseits in eben diesen riesigen Produktivkräften auch die Mittel, diese Konflikte zu lösen. Waren also um 1800 die der neuen Gesellschaftsordnung entspringenden Konflikte erst im Werden begriffen, so gilt dies noch weit mehr von den Mitteln ihrer Lösung. Hatten die besitzlosen Massen von Paris während der Schreckenszeit einen Augenblick die Herrschaft erobern können, so hatten sie damit nur bewiesen, wie unmöglich diese Herrschaft unter den damaligen Verhältnissen war. Das sich aus diesen besitzlosen Massen eben erst als Stamm einer neuen Klasse absondernde Proletariat, noch ganz unfähig zu selbständiger politischer Aktion, stellte sich dar als unterdrückter, leidender Stand, dem in seiner Unfähigkeit, sich selbst zu helfen, höchstens von außen her, von oben herab Hilfe zu bringen war.

|241| Diese geschichtliche Lage beherrschte auch die Stifter des Sozialismus. Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage entsprachen unreife Theorien. Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopfe erzeugt werden. Die Gesellschaft bot nur Mißstände; sie zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft. Es handelte sich darum, ein neues vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt, je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen.

Dies einmal festgestellt, halten wir uns bei dieser, jetzt ganz der Vergangenheit angehörigen Seite keinen Augenblick länger auf. Wir können es literarischen Kleinkrämern à la Dühring überlassen, an diesen, heute nur noch erheiternden Phantastereien feierlich herumzuklauben und die Überlegenheit ihrer eignen nüchternen Denkungsart geltend zu machen gegenüber solchem »Wahnwitz«. Wir freuen uns lieber der genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle überall hervorbrechen, und für die jene Philister blind sind.

Saint-Simon stellt bereits in seinen Genfer Briefen den Satz auf, daß »alle Menschen arbeiten sollen«.

In derselben Schrift weiß er schon, daß die Schreckensherrschaft die Herrschaft der besitzlosen Massen war.

»Seht an«, ruft er ihnen zu, »was sich in Frankreich ereignet hat zu der Zeit, als eure Kameraden dort geherrscht; sie haben die Hungersnot erzeugt.«

Die französische Revolution aber als einen Klassenkampf zwischen Adel, Bürgertum und Besitzlosen aufzufassen, war im Jahr 1802 eine höchst geniale Entdeckung. 1816 erklärt er die Politik für die Wissenschaft der Produktion und sagt voraus das gänzliche Aufgehn der Politik in der Ökonomie. Wenn hierin die Erkenntnis, daß die ökonomische Lage die Basis der politischen Einrichtungen ist, nur erst im Keime sich zeigt, so ist doch die Überführung der politischen Regierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen und eine Leitung von Produktionsprozessen, also die neuerdings mit so viel Lärm breitgetretne Abschaffung des Staats hier schon klar ausgesprochen. Mit gleicher Überlegenheit über seine Zeitgenossen proklamiert er 1814, unmittelbar nach dem Einzug der Verbündeten in Paris, und noch 1815, während des Kriegs der Hundert Tage, die Allianz |242| Frankreichs mit England und in zweiter Linie beider Länder mit Deutschland als einzige Gewähr für die gedeihliche Entwicklung und den Frieden Europas. Allianz den Franzosen von 1815 predigen mit den Siegern von Waterloo, dazu gehörte allerdings etwas mehr Mut, als den deutschen Professoren einen Klatschkrieg zu erklären.

Wenn wir bei Saint-Simon eine geniale Weite des Blicks entdecken, vermöge deren fast alle nicht streng ökonomischen Gedanken der spätern Sozialisten bei ihm im Keim enthalten sind, so finden wir bei Fourier eine echt französisch-geistreiche, aber darum nicht minder tief eindringende Kritik der bestehenden Gesellschaftszustände. Fourier nimmt die Bourgeoisie, ihre begeisterten Propheten von vor, und ihre interessierten Lobhudler von nach der Revolution beim Worte. Er deckt die materielle und moralische Misere der bürgerlichen Welt unbarmherzig auf, er hält daneben sowohl die gleißenden Versprechungen der Aufklärer von der Gesellschaft, in der nur die Vernunft herrschen werde, von der alles beglückenden Zivilisation, von der grenzenlosen menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, wie auch die schönfärbenden Redensarten der gleichzeitigen Bourgeoisideologen; er weist nach, wie der hochtönendsten Phrase überall die erbärmlichste Wirklichkeit entspricht, und überschüttet dies rettungslose Fiasko der Phrase mit beißendem Spott. Fourier ist nicht nur Kritiker, seine ewig heitere Natur macht ihn zum Satiriker, und zwar zu einem der größten Satiriker aller Zeiten. Die mit dem Niedergang der Revolution emporblühende Schwindelspekulation ebenso wie die allgemeine Krämerhaftigkeit des damaligen französischen Handels schildert er ebenso meisterhaft wie ergötzlich. Noch meisterhafter ist seine Kritik der bürgerlichen Gestaltung der Geschlechtsverhältnisse und der Stellung des Weibes in der bürgerlichen Gesellschaft. Er spricht es zuerst aus, daß in einer gegebnen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist. Am großartigsten aber erscheint Fourier in seiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft. Er teilt ihren ganzen bisherigen Verlauf in vier Entwicklungsstufen: Wildheit, Patriarchat, Barbarei, Zivilisation, welch letztere mit der jetzt sogenannten bürgerlichen Gesellschaft zusammenfällt, und weist nach

»daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseinsweise erhebt«,

daß die Zivilisation sich in einem »fehlerhaften Kreislauf« bewegt, in Widersprüchen, die sie stets neu erzeugt, ohne sie überwinden zu können, |243| so daß sie stets das Gegenteil erreicht von dem, was sie erlangen will oder erlangen zu wollen vorgibt. So daß z.B.

»in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt«.

Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, daß jede geschichtliche Phase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendet diese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an. Wie Kant den künftigen Untergang der Erde in die Naturwissenschaft, führt Fourier den künftigen Untergang der Menschheit in die Geschichtsbetrachtung ein.

Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich. Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten damit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Der schläfrige Entwicklungsgang der Manufakturzeit verwandelte sich in eine wahre Sturm- und Drangperiode der Produktion. Mit stets wachsender Schnelligkeit vollzog sich die Scheidung der Gesellschaft in große Kapitalisten und besitzlose Proletarier, zwischen denen, statt des frühern stabilen Mittelstandes, jetzt eine unstete Masse von Handwerkern und Kleinhändlern eine schwankende Existenz führte, der fluktuierendste Teil der Bevölkerung. Noch war die neue Produktionsweise erst im Anfang ihres aufsteigenden Asts; noch war sie die normale, die unter den Umständen einzig mögliche Produktionsweise. Aber schon damals erzeugte sie schreiende soziale Mißstände: Zusammendrängung einer heimatlosen Bevölkerung in den schlechtesten Wohnstätten großer Städte - Lösung aller hergebrachten Bande des Herkommens, der patriarchalischen Unterordnung, der Familie - Überarbeit besonders der Weiber und Kinder in schreckenerregendem Maß - massenhafte Demoralisation der plötzlich in ganz neue Verhältnisse geworfnen arbeitenden Klasse. Da trat ein neunundzwanzigjähriger Fabrikant als Reformator auf, ein Mann von bis zur Erhabenheit kindlicher Einfachheit des Charakters und zugleich ein geborner Lenker von Menschen wie wenige. Robert Owen hatte sich die Lehre der materialistischen Aufklärer angeeignet, daß der Charakter des Menschen das Produkt sei einerseits der angebornen Organisation und andrerseits der den Menschen während seiner Lebenszeit, besonders aber während der Entwicklungsperiode umgebenden Umstände. In der industriellen Revolution sahen die meisten |244| seiner Standesgenossen nur Verwirrung und Chaos, gut, um im trüben zu fischen und sich rasch zu bereichern. Er sah in ihr die Gelegenheit, seinen Lieblingssatz zur Anwendung und damit Ordnung in das Chaos zu bringen. Er hatte es schon in Manchester als Dirigent über fünfhundert Arbeiter einer Fabrik erfolgreich versucht; von 1800 bis 1829 leitete er die große Baumwollspinnerei von New Lanark in Schottland als dirigierender Associé in demselben Sinn, nur mit größerer Freiheit des Handelns, und mit einem Erfolg, der ihm europäischen Ruf eintrug. Eine allmählich auf 2.500 Köpfe anwachsende, ursprünglich aus den gemischtesten und größtenteils stark demoralisierten Elementen sich zusammensetzende Bevölkerung wandelte er um in eine vollständige Musterkolonie, in der Trunkenheit, Polizei, Strafrichter, Prozesse, Armenpflege, Wohltätigkeitsbedürfnis unbekannte Dinge waren. Und zwar einfach dadurch, daß er die Leute in menschenwürdigere Umstände versetzte und namentlich die heranwachsende Generation sorgfältig erziehen ließ. Er war der Erfinder der Kleinkinderschulen und führte sie hier zuerst ein. Vom zweiten Lebensjahre an kamen die Kinder in die Schule, wo sie sich so gut unterhielten, daß sie kaum wieder heimzubringen waren. Während seine Konkurrenten dreizehn bis vierzehn Stunden täglich arbeiteten, wurde in New Lanark nur zehneinhalb Stunden gearbeitet. Als eine Baumwollenkrisis zu viermonatigem Stillstand zwang, wurde den feiernden Arbeitern der volle Lohn fortbezahlt. Und dabei hatte das Etablissement seinen Wert mehr als verdoppelt und bis zuletzt den Eigentümern reichlichen Gewinn abgeworfen.

Mit alledem war Owen nicht zufrieden. Die Existenz, die er seinen Arbeitern geschaffen, war in seinen Augen noch lange keine menschenwürdige;

»die Leute waren meine Sklaven«:

die relativ günstigen Umstände, in die er sie versetzt, waren noch weit entfernt davon, eine allseitige und rationelle Entwicklung des Charakters und des Verstandes, geschweige eine freie Lebenstätigkeit zu gestatten.

»Und doch produzierte der arbeitende Teil dieser 2.500 Menschen ebensoviel wirklichen Reichtum für die Gesellschaft, wie kaum ein halbes Jahrhundert vorher eine Bevölkerung von 600.000 erzeugen konnte. Ich frug mich: was wird aus der Differenz zwischen dem von 2.500 Personen verzehrten Reichtum und demjenigen, den die 600.000 hätten verzehren müssen?«

Die Antwort war klar. Er war verwandt worden, um den Besitzern des Etablissements fünf Prozent Zinsen vom Anlagekapital und außerdem noch mehr als 300.000 Pfd. Sterling (6.000.000 Mark) Gewinn abzuwerfen. Und was von New Lanark, galt in noch höherm Maß von allen Fabriken Englands.

|245| »Ohne diesen neuen, durch die Maschinen geschaffnen Reichtum hätten die Kriege zum Sturz Napoleons und zur Aufrechterhaltung der aristokratischen Gesellschaftsprinzipien nicht durchgeführt werden können. Und doch war diese neue Macht die Schöpfung der arbeitenden Klasse.«

Ihr gehörten daher auch die Früchte. Die neuen, gewaltigen Produktivkräfte, bisher nur der Bereicherung einzelner und der Knechtung der Massen dienend, boten für Owen die Grundlage zu einer gesellschaftlichen Neubildung, und waren dazu bestimmt, als gemeinsames Eigentum aller nur für die gemeinsame Wohlfahrt aller zu arbeiten.

Auf solche rein geschäftsmäßige Weise, als Frucht sozusagen der kaufmännischen Berechnung entstand der Owensche Kommunismus. Denselben auf das Praktische gerichteten Charakter behält er durchweg. So schlug Owen 1823 Hebung des irischen Elends durch kommunistische Kolonien vor und legte vollständige Berechnungen über Anlagekosten, jährliche Auslagen und voraussichtliche Erträge bei. So ist in seinem definitiven Zukunftsplan die technische Ausarbeitung der Einzelheiten mit solcher Sachkenntnis durchgeführt, daß, die Owensche Methode der Gesellschaftsreform einmal zugegeben, sich gegen die Detaileinrichtung selbst vom fachmännischen Standpunkt nur wenig sagen läßt.

Der Fortschritt zum Kommunismus war der Wendepunkt in Owens Leben. Solange er als bloßer Philanthrop aufgetreten, hatte er nichts geerntet als Reichtum, Beifall, Ehre und Ruhm. Er war der populärste Mann in Europa. Nicht nur seine Standesgenossen, auch Staatsmänner und Fürsten hörten ihm beifällig zu. Als er aber mit seinen kommunistischen Theorien hervortrat, wendete sich das Blatt. Drei große Hindernisse waren es, die ihm vor allem den Weg zur gesellschaftlichen Reform zu versperren schienen: das Privateigentum, die Religion und die gegenwärtige Form der Ehe. Er wußte, was ihm bevorstand, wenn er sie angriff: die allgemeine Ächtung durch die offizielle Gesellschaft, der Verlust seiner ganzen sozialen Stellung. Aber er ließ sich nicht abhalten, sie rücksichtslos anzugreifen, und es geschah, wie er vorhergesehn. Verbannt aus der offiziellen Gesellschaft, totgeschwiegen von der Presse, verarmt durch fehlgeschlagne kommunistische Versuche in Amerika, in denen er sein ganzes Vermögen geopfert, wandte er sich direkt an die Arbeiterklasse und blieb in ihrer Mitte noch dreißig Jahre tätig. Alle gesellschaftlichen Bewegungen, alle wirklichen Fortschritte, die in England im Interesse der Arbeiter zustande gekommen, knüpfen sich an den Namen Owen. So setzte er 1819 nach fünfjähriger Anstrengung das erste Gesetz zur Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit in den Fabriken durch. So präsidierte er dem ersten Kongreß, |246| auf dem die Trade-Unions von ganz England sich in eine einzige große Gewerksgenossenschaft vereinigten. So führte er als Übergangsmaßregeln zur vollständig kommunistischen Einrichtung der Gesellschaft einerseits die Kooperativgesellschaften ein (Konsum- und Produktivgenossenschaften), die seitdem wenigstens den praktischen Beweis geliefert haben, daß sowohl der Kaufmann wie der Fabrikant sehr entbehrliche Personen sind; andrerseits die Arbeitsbasars, Anstalten zum Austausch von Arbeitsprodukten vermittelst eines Arbeitspapiergeldes, dessen Einheit die Arbeitsstunde bildete; Anstalten, die notwendig scheitern mußten, die aber die weit spätere Proudhonsche Tauschbank vollständig antizipierten und sich nur dadurch von ihr unterschieden, daß sie nicht das Universalheilmittel aller gesellschaftlichen Übel, sondern nur einen ersten Schritt zu einer weit radikaleren Umgestaltung der Gesellschaft darstellten. Das sind die Männer, auf die der souveräne Herr Dühring von der Höhe seiner »endgültigen Wahrheit letzter Instanz« mit der Verachtung herabsieht, von der wir in der Einleitung einige Beispiele gegeben haben. Und diese Verachtung ist nach Einer Seite hin nicht ohne ihren zureichenden Grund: sie beruht nämlich wesentlich auf einer wahrhaft erschreckenden Unwissenheit in Beziehung auf die Schriften der drei Utopisten.

So heißt es von Saint-Simon, daß

»sein Grundgedanke im wesentlichen zutreffend gewesen ist und, von einigen Einseitigkeiten abgesehn, noch heute den leitenden Antrieb zu wirklichen Gestaltungen liefert«.

Trotzdem aber Herr Dühring in der Tat einige der Saint-Simonschen Werke in der Hand gehabt zu haben scheint, sehn wir uns auf den betreffenden siebenundzwanzig Druckseiten ebenso vergeblich nach dem »Grundgedanken« Saint-Simons um, wie früher nach dem, was Quesnays ökonomisches Tableau »bei Quesnay selbst zu bedeuten hat«, und müssen uns schließlich abspeisen lassen mit der Phrase, »daß die Imagination und der philanthropische Affekt ... mit der ihm zugehörigen Überspannung der Phantasie den gesamten Ideenkreis Saint-Simons beherrschte«! Von Fourier kennt und beachtet er nur die in romanhaftes Detail ausgemalten Zukunftsphantasien, was allerdings zur Feststellung der unendlichen Überlegenheit des Herrn Dühring über Fourier »weit wichtiger ist« als zu untersuchen, wie dieser »die wirklichen Zustände gelegentlich zu kritisieren versucht«. Gelegentlich! Nämlich fast auf jeder Seite seiner Werke sprühen die Funken der Satire und der Kritik über die Miseren der vielgepriesenen Zivilisation. Es ist, als wollte man sagen, Herr Dühring erkläre |247| nur »gelegentlich« den Herrn Dühring für den größten Denker aller Zeiten. Was aber gar die zwölf, Robert Owen gewidmeten Seiten angeht, so hat Herr Dühring dafür absolut keine andre Quelle als die miserable Biographie des Philisters Sargant, der die wichtigsten Schriften Owens - über die Ehe und die kommunistische Einrichtung - ebenfalls nicht kannte. Herr Dühring kann sich daher kühnlich zu der Behauptung versteigen, man dürfe bei Owen »keinen entschiednen Kommunismus voraussetzen«. Allerdings, hätte Herr Dühring Owens »Book of the New Moral World« auch nur in der Hand gehabt, so hätte er darin nicht nur den allerentschiedensten Kommunismus, mit gleicher Arbeitspflicht und gleichem Anrecht am Produkt - gleich je nach dem Alter, wie Owen stets ergänzt - ausgesprochen gefunden, sondern auch die vollständige Ausarbeitung des Gebäudes für die kommunistische Gemeinde der Zukunft, mit Grundriß, Aufriß und Ansicht aus der Vogelperspektive. Wenn man aber das »unmittelbare Studium der eignen Schriften der Vertreter der sozialistischen Ideenkreise« auf die Kenntnis des Titels und höchstens noch - des Mottos einiger weniger dieser Schriften beschränkt, wie Herr Dühring hier, so bleibt allerdings nichts übrig als solche alberne und direkt erfundne Behauptung. Nicht nur gepredigt hat Owen den »entschiednen Kommunismus«, er hat ihn auch während fünf Jahren (Ende der dreißiger und anfangs der vierziger) praktiziert in der Kolonie von Harmony Hall in Hampshire, deren Kommunismus an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrigließ. Ich habe selbst mehrere ehemalige Mitglieder dieses kommunistischen Musterexperiments gekannt. Aber von alledem, wie überhaupt von Owens Tätigkeit zwischen 1836 und 1850 weiß Sargant absolut nichts, und daher verbleibt auch die »tiefere Geschichtschreibung« des Herrn Dühring in pechdunkler Ignoranz. Herr Dühring nennt Owen »in jeder Hinsicht ein wahres Monstrum philanthropischer Aufdringlichkeit«. Wenn aber derselbe Herr Dühring uns über den Inhalt von Büchern unterrichtet, von denen er kaum Titel und Motto kennt, so dürfen wir beileibe nicht sagen, er sei »in jeder Hinsicht ein wahres Monstrum von unwissender Aufdringlichkeit«, denn das wäre in unserm Munde ja »geschimpft«.

Die Utopisten, sahen wir, waren Utopisten, weil sie nichts andres sein konnten zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktion noch so wenig entwickelt war. Sie waren genötigt, sich die Elemente einer neuen Gesellschaft aus dem Kopfe zu konstruieren, weil diese Elemente in der alten Gesellschaft selbst noch nicht allgemein sichtbar hervortraten; sie waren beschränkt für die Grundzüge ihres Neubaus auf den Appell an die Vernunft, weil sie eben noch nicht an die gleichzeitige Geschichte appellieren konnten. |248| Wenn aber jetzt, fast achtzig Jahre nach ihrem Auftreten, Herr Dühring auf die Bühne tritt mit dem Anspruch, ein »maßgebendes« System einer neuen Gesellschaftsordnung nicht aus dem vorliegenden geschichtlich entwickelten Material als dessen notwendiges Ergebnis zu entwickeln, nein, aus seinem souveränen Kopf, aus seiner mit endgültigen Wahrheiten schwangern Vernunft zu konstruieren, so ist er, der überall Epigonen riecht, selbst nur der Epigone der Utopisten, der neueste Utopist. Er nennt die großen Utopisten »soziale Alchimisten«. Mag sein. Die Alchimie war ihrerzeit notwendig. Aber seit jener Zeit hat die große Industrie die Widersprüche, die in der kapitalistischen Produktionsweise schlummerten, zu so schreienden Gegensätzen entwickelt, daß der herannahende Zusammenbruch dieser Produktionsweise sozusagen mit Händen zu greifen ist; daß die neuen Produktivkräfte selbst nur erhalten und weiter ausgebildet werden können durch Einführung einer neuen, ihrem gegenwärtigen Entwicklungsgrad entsprechenden Produktionsweise; daß der Kampf der beiden, durch die bisherige Produktionsweise erzeugten und stets in verschärftem Gegensatz reproduzierten Klassen alle zivilisierten Länder ergriffen hat und täglich heftiger wird, und daß die Einsicht in diesen geschichtlichen Zusammenhang, in die Bedingungen der durch ihn notwendig gemachten sozialen Umgestaltung und in die ebenfalls durch ihn bedingten Grundzüge dieser Umgestaltung auch bereits gewonnen ist. Und wenn jetzt Herr Dühring, statt aus dem vorliegenden ökonomischen Material, aus seinem allerhöchsten Hirnschädel heraus eine neue utopische Gesellschaftsordnung fabriziert, so treibt er nicht nur einfache »soziale Alchimie«. Er benimmt sich vielmehr wie jemand, der nach der Entdeckung und Feststellung der Gesetze der modernen Chemie die alte Alchimie wiederherstellen und die Atomgewichte, die Molekularformeln, die Quantivalenz der Atome, die Kristallographie und die Spektralanalyse benutzen wollte einzig zur Entdeckung - des Steins der Weisen.


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