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IX. Moral und Recht. Ewige Wahrheiten

|78| Wir enthalten uns, Pröbchen zu geben von dem Mischmasch von Plattheit und Orakelhaftigkeit, kurz von dem simplen Kohl, den Herr Dühring seinen Lesern fünfzig volle Seiten zu genießen gibt, als wurzelhafte Wissenschaft von den Elementen des Bewußtseins. Wir zitieren nur dies:

»Wer nur an der Hand der Sprache zu denken vermag, hat noch nie erfahren, was abgesondertes und eigentliches Denken zu bedeuten habe.«

Danach sind die Tiere die abgesondertsten und eigentlichsten Denker, weil ihr Denken nie durch die zudringliche Einmischung der Sprache getrübt wird. Allerdings sieht man es den Dühringschen Gedanken und der sie ausdrückenden Sprache an, wie wenig diese Gedanken für irgendeine Sprache gemacht sind und wie wenig die deutsche Sprache für diese Gedanken.

Endlich erlöst uns der vierte Abschnitt, der uns, außer jenem zerfließenden Redebrei, wenigstens hie und da etwas Greifbares über Moral und Recht bietet. Gleich im Anfang werden wir diesmal zu einer Reise auf die andern Weltkörper eingeladen:

die Elemente der Moral müssen sich »bei allen außermenschlichen Wesen, in denen sich ein tätiger Verstand mit der bewußten Ordnung von triebförmigen Lebensregungen zu befassen hat, in übereinstimmender Weise ... wiederfinden ... Doch wird unsre Teilnahme für solche Folgerungen gering bleiben ... Außerdem aber bleibt es immer eine den Gesichtskreis wohltätig erweiternde Idee, wenn wir uns vorstellen, daß auf andern Weltkörpern das Einzel- und das Gemeinleben von einem Schema ausgehen muß, welches ... nicht vermag, die allgemeine Grundverfassung eines verstandesmäßig handelnden Lesens aufzuheben oder zu umgehn.«

Wenn hier ausnahmsweise die Gültigkeit der Dühringschen Wahrheiten auch für alle andern möglichen Welten an die Spitze, statt ans Ende des betreffenden Kapitels gestellt wird, so hat das seinen zureichenden Grund. Hat man erst die Gültigkeit der Dühringschen Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen für alle Welten festgestellt, so wird man um so leichter ihre Gültigkeit auf alle Zeiten wohltätig erweitern können. Es handelt sich aber hier wieder um nichts Geringeres als um endgültige Wahrheit letzter Instanz.

Die moralische Welt hat »so gut wie diejenige des allgemeinen Wissens ... ihre bleibenden Prinzipien und einfachen Elemente«, die moralischen Prinzipien stehn »über der Geschichte und über den heutigen Unterschieden der Völkerbeschaffenheiten ... Die besondern Wahrheiten, aus denen sich im Lauf der Entwicklung das |79| vollere moralische Bewußtsein und sozusagen das Gewissen zusammensetzt, können, soweit sie bis in ihre letzten Gründe erkannt sind, eine ähnliche Geltung und Tragweite beanspruchen, wie die Einsichten und Anwendungen der Mathematik. Echte Wahrheiten sind überhaupt nicht wandelbar ... so daß es überhaupt eine Torheit ist, die Richtigkeit der Erkenntnis als von der Zeit und den realen Veränderungen angreifbar vorzustellen.« Daher läßt uns die Sicherheit strengen Wissens und die Zulänglichkeit der gemeineren Erkenntnis nicht dazu kommen, im besonnenen zustande an der absoluten Gültigkeit der Wissensprinzipien zu verzweifeln. »Schon der dauernde Zweifel selbst ist ein krankhafter Schwächezustand und nichts als der Ausdruck wüster Verworrenheit, die bisweilen in dem systematischen Bewußtsein ihrer Nichtigkeit den Schein von etwas Haltung aufzutreiben sucht. In den sittlichen Angelegenheiten klammert sich die Leugnung allgemeiner Prinzipien an die geographischen und geschichtlichen Mannigfaltigkeiten der Sitten und Grundsätze, und gibt man ihr die unausweichliche Notwendigkeit des sittlich Schlimmen und Bösen zu, so glaubt sie erst recht über die Anerkennung der ernsthaften Geltung und tatsächlichen Wirksamkeit übereinstimmender moralischer Antriebe hinaus zu sein. Diese aushöhlende Skepsis, die sich nicht etwa gegen einzelne falsche Lehren, sondern gegen die menschliche Fähigkeit zur bewußten Moralität selbst kehrt, mündet schließlich in ein wirkliches Nichts, ja eigentlich in etwas, was schlimmer ist als der bloße Nihilismus ... Sie schmeichelt sich, in ihrem wirren Chaos von aufgelösten sittlichen Vorstellungen leichten Kaufes herrschen und dem grundsatzlosen Belieben alle Tore öffnen zu können. Sie täuscht sich aber gewaltig: denn die bloße Hinweisung auf die unvermeidlichen Schicksale des Verstandes in Irrtum und Wahrheit genügt, um schon durch diese einzige Analogie erkennbar zu machen, wie die naturgesetzliche Fehlbarkeit die Vollbringung des Zutreffenden nicht auszuschließen braucht.«

Wir haben bis jetzt alle diese pompösen Aussprüche des Herrn Dühring über endgültige Wahrheiten letzter Instanz, Souveränetät des Denkens, absolute Sicherheit des Erkennens usw. ruhig hingenommen, weil die Sache doch erst an dem Punkt zum Austrag gebracht werden konnte, wo wir jetzt angelangt sind. Bisher genügte die Untersuchung, inwieweit die einzelnen Behauptungen der Wirklichkeitsphilosophie »souveräne Geltung« und »unbedingten Anspruch auf Wahrheit« hatten; hier kommen wir vor die Frage, ob und welche Produkte des menschlichen Erkennens überhaupt souveräne Geltung und unbedingten Anspruch auf Wahrheit haben können. Wenn ich sage: des menschlichen Erkennens, so sage ich dies nicht etwa in beleidigender Absicht gegen die Bewohner andrer Weltkörper, die ich nicht die Ehre habe zu kennen, sondern nur weil auch die Tiere erkennen, aber keineswegs souverän. Der Hund erkennt in seinem Herrn seinen Gott, wobei dieser Herr der größte Lump sein kann.

Ist das menschliche Denken souverän? Ehe wir ja oder nein antworten, müssen wir erst untersuchen, was das menschliche Denken ist. Ist es das |80| Denken eines einzelnen Menschen? Nein. Aber es existiert nur als das Einzeldenken von vielen Milliarden vergangner, gegenwärtiger und zukünftiger Menschen. Wenn ich nun sage, daß dies in meiner Vorstellung zusammengefaßte Denken aller dieser Menschen, die zukünftigen eingeschlossen, souverän, imstande ist, die bestehende Welt zu erkennen, sofern die Menschheit nur lange genug dauert und soweit nicht in den Erkenntnisorganen und den Erkenntnisgegenständen diesem Erkennen Schranken gesetzt sind, so sage ich etwas ziemlich Banales und zudem ziemlich Unfruchtbares. Denn das wertvollste Resultat dürfte dies sein, uns gegen unsre heutige Erkenntnis äußerst mißtrauisch zu machen, da wir ja aller Wahrscheinlichkeit nach so ziemlich am Anfang der Menschheitsgeschichte stehn, und die Generationen, die uns berichtigen werden, wohl viel zahlreicher sein dürften als diejenigen, deren Erkenntnis wir - oft genug mit beträchtlicher Geringschätzung - zu berichtigen im Falle sind.

Herr Dühring selbst erklärt es für eine Notwendigkeit, daß das Bewußtsein, also auch das Denken und Erkennen, nur in einer Reihe von Einzelwesen zur Erscheinung kommen könne. Dem Denken jedes dieser Einzelnen können wir nur insofern Souveränetät zuschreiben, als wir keine Macht kennen, die imstande wäre, ihm im gesunden und wachenden Zustand irgendeinen Gedanken mit Gewalt aufzunötigen. Was aber die souveräne Geltung der Erkenntnisse jedes Einzeldenkens angeht, so wissen wir alle, daß davon gar keine Rede sein kann, und daß nach aller bisherigen Erfahrung sie ohne Ausnahme stets viel mehr Verbesserungsfähiges als Nichtverbesserungsfähiges oder Richtiges enthalten.

Mit andern Worten: die Souveränetät des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis, welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern; weder die eine noch die andre kann anders als durch eine unendliche Lebensdauer der Menschheit vollständig verwirklicht werden.

Wir haben hier wieder denselben Widerspruch, wie schon oben, zwischen dem notwendig als absolut vorgestellten Charakter des menschlichen Denkens, und seiner Realität in lauter beschränkt denkenden Einzelmenschen, ein Widerspruch, der sich nur im unendlichen Progreß, in der für uns wenigstens praktisch endlosen Aufeinanderfolge der Menschengeschlechter lösen kann. In diesem Sinn ist das menschliche Denken ebensosehr souverän wie nicht souverän und seine Erkenntnisfähigkeit ebensosehr unbeschränkt wie beschränkt. Souverän und unbeschränkt der Anlage, |81| dem Beruf, der Möglichkeit, dem geschichtlichen Endziel nach; nicht souverän und beschränkt der Einzelausführung und der jedesmaligen Wirklichkeit nach.

Ebenso verhält es sich mit den ewigen Wahrheiten. Käme die Menschheit je dahin, daß sie nur noch mit ewigen Wahrheiten, mit Denkresultaten operierte, die souveräne Geltung und unbedingten Anspruch auf Wahrheit haben, so wäre sie auf dem Punkt angekommen, wo die Unendlichkeit der intellektuellen Welt nach Wirklichkeit wie Möglichkeit erschöpft und damit das vielberühmte Wunder der abgezählten Unzahl vollzogen wäre.

Nun gibt es aber doch Wahrheiten, die so feststehn, daß jeder Zweifel daran uns als gleichbedeutend mit Verrücktheit erscheint? daß zwei mal zwei vier ist, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei Rechten sind, daß Paris in Frankreich liegt, daß ein Mensch ohne Nahrung Hungers stirbt usw.? Also gibt es doch ewige Wahrheiten, endgültige Wahrheiten letzter Instanz?

Allerdings Wir können das ganze Gebiet des Erkennens nach altbekannter Art in drei große Abschnitte teilen. Der erste umfaßt alle Wissenschaften, die sich mit der unbelebten Natur beschäftigen und mehr oder minder einer mathematischen Behandlung fähig sind: Mathematik, Astronomie, Mechanik, Physik, Chemie. Wenn es jemandem Vergnügen macht, gewaltige Worte auf sehr einfache Dinge anzuwenden, so kann man sagen, daß gewisse Ergebnisse dieser Wissenschaften ewige Wahrheiten, endgültige Wahrheiten letzter Instanz sind: weshalb man diese Wissenschaften auch die exakten genannt hat. Aber noch lange nicht alle Ergebnisse. Mit der Einführung der veränderlichen Größen und der Ausdehnung ihrer Veränderlichkeit bis ins unendlich Kleine und unendlich Große hat die sonst so sittenstrenge Mathematik den Sündenfall begangen; sie hat den Apfel der Erkenntnis gegessen, der ihr die Laufbahn der riesenhaftesten Erfolge eröffnete, aber auch die der Irrtümer. Der jungfräuliche Zustand der absoluten Gültigkeit, der unumstößlichen Bewiesenheit alles Mathematischen war auf ewig dahin; das Reich der Kontroversen brach an, und wir sind dahin gekommen, daß die meisten Leute differenzieren und integrieren, nicht weil sie verstehn, was sie tun, sondern aus reinem Glauben, weil es bisher immer richtig herausgekommen ist. Mit der Astronomie und Mechanik steht es noch schlimmer, und in Physik und Chemie befindet man sich inmitten der Hypothesen wie inmitten eines Bienenschwarms. Es ist dies auch gar nicht anders möglich. In der Physik haben wir es mit der Bewegung von Molekülen, in der Chemie mit der Bildung von Molekülen aus Atomen zu tun, und wenn nicht die Interferenz der Lichtwellen eine Fabel |82| ist, so haben wir absolut keine Aussicht, jemals diese interessanten Dinger mit unsern Augen zu sehn. Die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz werden da mit der Zeit merkwürdig selten.

Noch schlimmer sind wir dran in der Geologie, die ihrer Natur nach sich hauptsächlich mit Vorgängen beschäftigt, bei denen nicht nur nicht wir, sondern überhaupt kein Mensch dabeigewesen ist. Die Ausbeute an endgültigen Wahrheiten letzter Instanz ist daher hier mit sehr vieler Mühe verknüpft und dabei äußerst sparsam.

Die zweite Klasse von Wissenschaften ist die, welche die Erforschung der lebenden Organismen in sich begreift. Auf diesem Gebiet entwickelt sich eine solche Mannigfaltigkeit der Wechselbeziehungen und Ursächlichkeiten, daß nicht nur jede gelöste Frage eine Unzahl neuer Fragen aufwirft, sondern auch jede einzelne Frage meist nur stückweise, durch eine Reihe von oft Jahrhunderte in Anspruch nehmenden Forschungen gelöst werden kann; wobei dann das Bedürfnis systematischer Auffassung der Zusammenhänge stets von neuem dazu nötigt, die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz mit einer überwuchernden Anpflanzung von Hypothesen zu umgeben. Welche lange Reihe von Mittelstufen von Galen bis Malpighi war nötig, um eine so einfache Sache wie die Zirkulation des Bluts bei Säugetieren richtig festzustellen, wie wenig wissen wir von der Entstehung der Blutkörperchen, und wieviel Mittelglieder fehlen uns heute noch, um z.B. die Erscheinungen einer Krankheit mit ihren Ursachen in rationellen Zusammenhang zu bringen! Dabei kommen oft genug Entdeckungen vor wie die der Zelle, die uns zwingen, alle bisher festgestellten endgültigen Wahrheiten letzter Instanz auf dem Gebiet der Biologie einer totalen Revision zu unterwerfen und ganze Haufen davon ein für allemal zu beseitigen. Wer also hier wirklich echte, unwandelbare Wahrheiten aufstellen will, der wird sich mit Plattheiten begnügen müssen wie: Alle Menschen müssen sterben, alle weiblichen Säugetiere haben Milchdrüsen usw.; er wird nicht einmal sagen können, daß die höheren Tiere mit dem Magen und Darmkanal verdauen und nicht mit dem Kopf, denn die im Kopf zentralisierte Nerventätigkeit ist zur Verdauung unumgänglich.

Noch schlimmer aber steht es mit den ewigen Wahrheiten in der dritten Gruppe von Wissenschaften, der historischen, die die Lebensbedingungen der Menschen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Rechts- und Staatsformen mit ihrem idealen Überbau von Philosophie, Religion, Kunst usw. in ihrer geschichtlichen Folge und ihrem gegenwärtigen Ergebnis untersucht. In der organischen Natur haben wir es doch wenigstens mit einer Reihenfolge von Hergängen zu tun, die sich, soweit unsre unmittelbare |83| Beobachtung in Frage kommt, innerhalb sehr weiter Grenzen ziemlich regelmäßig wiederholen. Die Arten der Organismen sind seit Aristoteles im ganzen und großen dieselben geblieben. In der Geschichte der Gesellschaft dagegen sind die Wiederholungen der Zustände die Ausnahme, nicht die Regel, sobald wir über die Urzustände der Menschen, das sogenannte Steinalter, hinausgehn; und wo solche Wiederholungen vorkommen, da ereignen sie sich nie genau unter denselben Umständen. So das Vorkommen des ursprünglichen Gemeineigentums am Boden bei allen Kulturvölkern und die Form seiner Auflösung. Wir sind daher auf dem Gebiet der Menschengeschichte mit unsrer Wissenschaft noch weit mehr im Rückstand als auf dem der Biologie; und mehr noch: wenn einmal ausnahmsweise der innere Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Daseinsformen eines Zeitabschnitts erkannt wird, so geschieht es regelmäßig dann, wenn diese Formen sich schon halb überlebt haben, dem Verfall entgegengehn. Die Erkenntnis ist hier also wesentlich relativ, indem sie sich beschränkt auf die Einsicht in den Zusammenhang und auf die Folgen gewisser, nur zu einer gegebnen Zeit und für gegebne Völker bestehenden und ihrer Natur nach vergänglichen Gesellschafts- und Staatsformen. Wer hier also auf endgültige Wahrheiten letzter Instanz, auf echte, überhaupt nicht wandelbare Wahrheiten Jagd macht, der wird wenig heimtragen, es seien denn Plattheiten und Gemeinplätze der ärgsten Art, z.B. daß die Menschen im allgemeinen ohne Arbeit nicht leben können, daß sie sich bisher meist eingeteilt haben in Herrschende und Beherrschte, daß Napoleon am 5. Mal 1821 gestorben ist usw.

Nun ist es aber merkwürdig, daß gerade auf diesem Gebiet die angeblichen ewigen Wahrheiten, die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz usw. uns am häufigsten begegnen. Daß zwei mal zwei vier ist, daß die Vögel Schnäbel haben, oder derartiges wird nur der für ewige Wahrheiten erklären, der mit der Absicht umgeht, aus dem Dasein ewiger Wahrheiten überhaupt zu folgern, daß es auch auf dem Gebiete der Menschengeschichte ewige Wahrheiten gebe, eine ewige Moral, eine ewige Gerechtigkeit usw., die eine ähnliche Geltung und Tragweite beanspruchen wie die Einsichten und Anwendungen der Mathematik. Und dann können wir mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß derselbe Menschenfreund uns bei erster Gelegenheit erklären wird, alle früheren Fabrikanten ewiger Wahrheiten seien mehr oder weniger Esel und Scharlatane, seien alle im Irrtum befangen gewesen, hätten gefehlt; das Vorhandensein ihres Irrtums und ihrer Fehlbarkeit aber sei naturgesetzlich und beweise das Dasein der Wahrheit und des Zutreffenden bei ihm, und er, der jetzt erstandne Prophet, trage die endgültige Wahr- |84| heit letzter Instanz, die ewige Moral, die ewige Gerechtigkeit, fix und fertig im Sack. Das alles ist schon so hundertmal und tausendmal dagewesen, daß man sich nur wundern muß, wenn es noch Menschen gibt, leichtgläubig genug, um dies nicht von andern, nein, von sich selbst zu glauben. Und dennoch erleben wir hier wenigstens noch einen solchen Propheten, der denn auch ganz in gewohnter Weise in hochmoralischen Harnisch gerät, wenn andre Leute es ableugnen, daß irgendein einzelner die endgültige Wahrheit letzter Instanz zu liefern imstande sei. Solche Leugnung, ja schon der bloße Zweifel ist ein Schwächezustand, wüste Verworrenheit, Nichtigkeit, aushöhlende Skepsis, schlimmer als der bloße Nihilismus, wirres Chaos und was dergleichen Liebenswürdigkeiten mehr sind. Wie bei allen Propheten, wird nicht kritisch-wissenschaftlich untersucht und beurteilt, sondern ohne weiteres moralisch verdonnert.

Wir hätten oben noch die Wissenschaften erwähnen können, die die Gesetze des menschlichen Denkens untersuchen, also Logik und Dialektik. Hier aber sieht es mit den ewigen Wahrheiten nicht besser aus. Die eigentliche Dialektik erklärt Herr Dühring für reinen Widersinn, und die vielen Bücher, die über Logik geschrieben worden sind und noch geschrieben werden, beweisen zur Genüge, daß auch da die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz viel dünner gesäet sind, als mancher glaubt.

Übrigens brauchen wir uns keineswegs darüber zu erschrecken, daß die Erkenntnisstufe, auf der wir heute stehn, ebensowenig endgültig ist als alle vorhergegangenen. Sie umfaßt schon ein ungeheures Material von Einsichten und erfordert eine sehr große Spezialisierung der Studien für jeden, der in irgendeinem Fach heimisch werden will. Wer aber den Maßstab echter, unwandelbarer, endgültiger Wahrheit letzter Instanz an Erkenntnisse legt, die der Natur der Sache nach entweder für lange Reihen von Generationen relativ bleiben und stückweise vervollständigt werden müssen, oder gar an solche, die, wie in Kosmogonie, Geologie, Menschheitsgeschichte schon wegen der Mangelhaftigkeit des geschichtlichen Materials stets lückenhaft und unvollständig bleiben werden - der beweist damit nur seine eigne Unwissenheit und Verkehrtheit, selbst wenn nicht, wie hier, der Anspruch auf persönliche Unfehlbarkeit den eigentlichen Hintergrund bildet. Wahrheit und Irrtum, wie alle sich in polaren Gegensätzen bewegenden Denkbestimmungen, haben absolute Gültigkeit eben nur für ein äußerst beschränktes Gebiet; wie wir das eben gesehn haben, und wie auch Herr Dühring wissen würde, bei einiger Bekanntschaft mit den ersten Elementen der Dialektik, die grade von der Unzulänglichkeit aller polaren Gegensätze handeln. Sobald wir den Gegensatz von Wahrheit und Irrtum außerhalb |85| jenes oben bezeichneten engen Gebiets anwenden, wird er relativ und damit für genaue wissenschaftliche Ausdrucksweise unbrauchbar; versuchen wir aber, ihn außerhalb jenes Gebiets als absolut gültig anzuwenden, so kommen wir erst recht in die Brüche; die beiden Pole des Gegensatzes schlagen in ihr Gegenteil um, Wahrheit wird Irrtum und Irrtum Wahrheit. Nehmen wir als Beispiel das bekannte Boylesche Gesetz, wonach bei gleichbleibender Temperatur das Volumen der Gase sich umgekehrt verhält wie der Druck, dem sie ausgesetzt sind. Regnault fand, daß dies Gesetz für gewisse Fälle nicht zutraf. Wäre er nun ein Wirklichkeitsphilosoph gewesen, so war er verpflichtet zu sagen: das Boylesche Gesetz ist wandelbar, also keine echte Wahrheit, also überhaupt keine Wahrheit, also Irrtum. Damit hätte er aber einen weit größeren Irrtum begangen, als der im Boyleschen Gesetz enthaltene war; in einem Sandhaufen von Irrtum wäre sein Körnchen Wahrheit verschwunden; er hätte also sein ursprünglich richtiges Resultat zu einem Irrtum verarbeitet, gegen den das Boylesche Gesetz mitsamt dem bißchen Irrtum, das an ihm klebte, als Wahrheit erschien. Regnault, als wissenschaftlicher Mann, ließ sich aber auf dergleichen Kindereien nicht ein, sondern untersuchte weiter und fand, daß das Boylesche Gesetz überhaupt nur annähernd richtig ist, und besonders seine Gültigkeit verliert bei Gasen, die durch Druck tropfbarflüssig gemacht werden können, und zwar sobald der Druck sich dem Punkt nähert, wo die Tropfbarkeit eintritt. Das Boylesche Gesetz erwies sich also als richtig nur innerhalb bestimmter Grenzen. Ist es aber absolut, endgültig wahr innerhalb dieser Grenzen? Kein Physiker wird das behaupten. Er wird sagen, daß es Gültigkeit hat innerhalb gewisser Druck- und Temperaturgrenzen und für gewisse Gase; und er wird innerhalb dieser noch enger gesteckten Grenzen die Möglichkeit nicht ausschließen einer noch engeren Begrenzung oder veränderter Fassung durch künftige Untersuchungen.(1) So steht es also um die endgül- |86| tigen Wahrheiten letzter Instanz, z.B. in der Physik. Wirklich wissenschaftliche Arbeiten vermeiden daher regelmäßig solche dogmatisch-moralische Ausdrücke wie Irrtum und Wahrheit, während diese uns überall entgegentreten in Schriften wie die Wirklichkeitsphilosophie, wo leeres Hin- und Herreden uns als souveränstes Resultat des souveränen Denkens sich aufdrängen will.

Aber, könnte ein naiver Leser fragen, wo hat denn Herr Dühring ausdrücklich gesagt, daß der Inhalt seiner Wirklichkeitsphilosophie endgültige Wahrheit sei, und zwar letzter Instanz? Wo? Nun, zum Beispiel in dem Dithyrambus auf sein System (S. 13), den wir im II. Kapitel teilweise ausgezogen. Oder wenn er in dem oben zitierten Satz sagt: Die moralischen Wahrheiten, soweit sie bis in ihre letzten Gründe erkannt sind, beanspruchen eine ähnliche Geltung wie die Einsichten der Mathematik. Und behauptet nicht Herr Dühring, von seinem wirklich kritischen Standpunkt aus und vermittelst seiner bis an die Wurzeln reichenden Untersuchung bis zu diesen letzten Gründen, den Grundschematen, vorgedrungen zu sein, also den moralischen Wahrheiten Endgültigkeit letzter Instanz verliehen zu haben? Oder aber, wenn Herr Dühring diesen Anspruch weder für sich noch für seine Zeit stellt, wenn er nur sagen will, daß irgendeinmal in nebelgrauer Zukunft endgültige Wahrheiten letzter Instanz festgestellt werden können, wenn er also ungefähr, nur konfuser, dasselbe sagen will wie die »aushöhlende Skepsis« und »wüste Verworrenheit« - ja dann, wozu der Lärm, was steht dem Herrn zu Diensten?

Wenn wir schon mit Wahrheit und Irrtum nicht weit vom Fleck kamen, so noch viel weniger mit Gut und Böse. Dieser Gegensatz bewegt sich ausschließlich auf moralischem, also auf einem der Menschengeschichte angehörigen Gebiet, und hier sind die endgültigen Wahrheiten letzter Instanz grade am dünnsten gesäet. Von Volk zu Volk, von Zeitalter zu Zeitalter haben die Vorstellungen von Gut und Böse so sehr gewechselt, daß sie einander oft geradezu widersprachen. - Aber, wird jemand einwerfen, Gut ist doch nicht Böse, und Böse nicht Gut; wenn Gut und Böse zusammengeworfen werden, so hört alle Moralität auf, und jeder kann tun und lassen, was er will. - dies ist auch, aller Orakelhaftigkeit entkleidet, die Meinung des Herrn Dühring. Aber so einfach erledigt sich die Sache doch nicht. Wenn das so einfach ginge, würde ja über Gut und Böse gar kein Streit sein, würde jeder wissen, was Gut und was Böse ist. Wie steht's aber heute? Welche Moral wird uns heute gepredigt? Da ist zuerst die christlich-feudale, |87| aus frühern glaubten Zeiten überkommne, die sich wesentlich wieder in eine katholische und protestantische teilt, wobei wieder Unterabteilungen von der jesuitisch-katholischen und orthodox-protestantischen bis zur lax-aufgeklärten Moral nicht fehlen. Daneben figuriert die modern-bürgerliche und neben dieser wieder die proletarische Zukunftsmoral, so daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allein in den fortgeschrittensten Ländern Europas drei große Gruppen gleichzeitig und nebeneinander geltender Moraltheorien liefern. Welche ist nun die wahre? Keine einzige, im Sinn absoluter Endgültigkeit; aber sicher wird diejenige Moral die meisten, Dauer versprechenden, Elemente besitzen, die in der Gegenwart die Umwälzung der Gegenwart, die Zukunft, vertritt, also die proletarische.

Wenn wir nun aber sehn, daß die drei Klassen der modernen Gesellschaft, die Feudalaristokratie, die Bourgeoisie und das Proletariat jede ihre besondre Moral haben, so können wir daraus nur den Schluß ziehn, daß die Menschen, bewußt oder unbewußt, ihre sittlichen Anschauungen in letzter Instanz aus den praktischen Verhältnissen schöpfen, in denen ihre Klassenlage begründet ist - aus den ökonomischen Verhältnissen, in denen sie produzieren und austauschen.

Aber in den obigen drei Moraltheorien ist doch manches allen dreien gemeinsam - wäre dies nicht wenigstens ein Stück der ein für allemal feststehenden Moral? - Jene Moraltheorien vertreten drei verschiedne Stufen derselben geschichtlichen Entwicklung, haben also einen gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund, und schon deshalb notwendig viel Gemeinsames. Noch mehr. Für gleiche oder annähernd gleiche ökonomische Entwicklungsstufen müssen die Moraltheorien notwendig mehr oder weniger übereinstimmen. Von dem Augenblick an, wo das Privateigentum an beweglichen Sachen sich entwickelt hatte, mußte allen Gesellschaften, wo dies Privateigentum galt, daß Moralgebot gemeinsam sein: Du sollst nicht stehlen. Wird dies Gebot dadurch zum ewigen Moralgebot? Keineswegs. In einer Gesellschaft, wo die Motive zum Stehlen beseitigt sind, wo also auf die Dauer nur noch höchstens von Geisteskranken gestohlen werden kann, wie würde da der Moralprediger ausgelacht werden, der feierlich die ewige Wahren proklamieren wollte: Du sollst nicht stehlen!

Wir weisen demnach eine jede Zumutung zurück, uns irgendwelche Moraldogmatik als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen, unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehn. Wir behaupten dagegen, alle bisherige Moraltheorie sei das Erzeugnis, in letzter Instanz, der jedesmaligen ökonomischen |88| Gesellschaftslage. Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral; entweder rechtfertigte sie die Herrschaft und die Interessen der herrschenden Klasse, oder aber sie vertrat, sobald die unterdrückte Klasse mächtig genug wurde, die Empörung gegen diese Herrschaft und die Zukunftsinteressen der Unterdrückten. Daß dabei im ganzen und großen für die Moral sowohl, wie für alle andern Zweige der menschlichen Erkenntnis ein Fortschritt zustande gekommen ist, daran wird nicht gezweifelt. Aber über die Klassenmoral sind wir noch nicht hinaus. Eine über den Klassengegensätzen und über der Erinnerung an sie stehende, wirklich menschliche Moral wird erst möglich auf einer Gesellschaftsstufe, die den Klassengegensatz nicht nur überwunden, sondern auch für die Praxis des Lebens vergessen hat. Und nun ermesse man die Selbstüberheburg des Herrn Dühring, der mitten aus der alten Klassengesellschaft heraus den Anspruch macht, am Vorabend einer sozialen Revolution der künftigen, klassenlosen Gesellschaft eine ewige, von der Zeit und den realen Veränderungen unabhängige Moral aufzuzwingen! Vorausgesetzt selbst - was uns bis jetzt noch unbekannt -, daß er die Struktur dieser künftigen Gesellschaft wenigstens in ihren Grundzügen verstehe.

Schließlich noch eine »von Grund aus eigentümliche«, aber darum nicht weniger

»bis an die Wurzeln reichende« Enthüllung: in Beziehung auf den Ursprung des Bösen

»steht uns die Tatsache, daß der Typus der Katze mit der zugehörigen Falschheit in einer Tierbildung vorhanden ist, mit dem Umstande auf gleicher Stufe, daß sich eine ähnliche Charaktergestaltung auch im Menschen vorfindet ... Das Böse ist daher nichts Geheimnisvolles, wenn man nicht etwa Lust hat, auch in dem Dasein der Katze oder überhaupt des Raubtiers etwas Mystisches zu wittern.« Das Böse ist - die Katze. Der Teufel hat also keine Hörner und Pferdefuß, sondern Krallen und grüne Augen. Und Goethe beging einen unverzeihlichen Fehler, wenn er den Mephistopheles als schwarzen Hund, statt als ditto Katze einführt. Das Böse ist die Katze! Das ist Moral, nicht nur für alle Welten, sondern auch - für die Katze!



Fußnote von Friedrich Engels:
(1) Seit ich obiges niederschrieb, scheint es sich bereits bestätigt zu haben. Nach den neuesten, von Mendelejew und Boguski mit genaueren Apparaten angestellten Untersuchungen zeigten alle echten Gase ein veränderliches Verhältnis zwischen Druck und Volumen; der Ausdehnungskoeffizient war bei Wasserstoff bei allen bisher angewandten Druckstärken positiv (das Volumen nahm langsamer ab, als der Druck zunahm); bei der atmosphärischen Luft und den andern untersuchten Gasen fand sich für jedes ein Nullpunkt des Drucks, so daß bei geringerem Druck jener Koeffizient positiv, bei größerem negativ war. Das bisher noch immer praktisch brauchbare Boylesche Gesetz wird also einer Ergänzung durch eine ganze Reihe von Spezialgesetzen bedürfen. (Wir wissen jetzt - 1885 - auch, daß es überhaupt keine »echten« Gase gibt. Sie sind alle auf den tropfbar-flüssigen Zustand reduziert worden.)

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